Politik

Masala vs. Varwick "Das ist kein Kompromiss, Johannes"

Masala, Varwick, Friedman und Deitelhoff (v.l.) im Frankfurter "Streitclub". Im Publikum saßen Schülerinnen und Schüler einer Frankfurter Schule; zwei von ihnen kamen im letzten Teil der Debatte auf die Bühne, um ebenfalls Fragen zu stellen.

Masala, Varwick, Friedman und Deitelhoff (v.l.) im Frankfurter "Streitclub". Im Publikum saßen Schülerinnen und Schüler einer Frankfurter Schule; zwei von ihnen kamen im letzten Teil der Debatte auf die Bühne, um ebenfalls Fragen zu stellen.

(Foto: Screenshot)

Der eine ist für Waffenlieferungen, der andere dagegen, beide argumentieren mit Europas Sicherheit. Grund für die unterschiedlichen Sichtweisen ist ein komplett anderer Blick auf Russland. In Frankfurt streiten die Politologen Varwick und Masala erstmals öffentlich.

Nach einer knappen Stunde bringt Nicole Deitelhoff den Streit auf den Punkt. An Johannes Varwick gerichtet sagt sie: "Ihr Argument ist: Wir müssen die Ukraine opfern für die europäische Sicherheit. Und Carlo Masalas Argument ist: Wir müssen die Ukraine verteidigen für die europäische Sicherheit."

In einer Frankfurter Veranstaltungsreihe namens "Streitclub", die Deitelhoff zusammen mit dem Publizisten Michel Friedman leitet, treten die Politologen Masala und Varwick stellvertretend für diese zwei Pole an. Auf Twitter haben sie bereits gestritten, öffentlich noch nicht. Titel der Diskussion: "Europas Sicherheit. Sind wir auf Krieg vorbereitet?" Aber eigentlich geht es vor allem darum, ob es richtig oder falsch ist, der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland zu helfen, ihr Waffen zu liefern. (Die Diskussion wurde auf Youtube übertragen, zu finden ist sie hier.)

Masala sieht es so: "Die Sicherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas wird gerade im Donbass verteidigt. Punkt." Russlands Ziel, die Ukraine zu zerstören, sei nur eine Dimension dieses Krieges. Eine andere sei, dass Russland in der Ukraine einen "Ordnungskrieg" führe. Soll heißen: Mit diesem Krieg hat Russland die bestehende Sicherheitsordnung in Europa zerstört, es will eine neue schaffen. Wenn das gelinge, "dann ist die Sicherheit Europas über die nächsten Jahrzehnte extrem destabilisiert".

"Russland hat vitale Interessen in der Ukraine", sagt Varwick

Varwick dagegen sieht den Westen auf einer "Rutschbahn" in eine immer stärkere Verstrickung in den Krieg und die "Eskalationsdominanz" auf russischer Seite. "Was immer wir tun, Russland ist in der Lage, auf einer neuen Ebene noch eins draufzusetzen." Die maximale Eskalation sei ein Einsatz von taktischen Nuklearwaffen. Das sei zwar unwahrscheinlich, aber es sei "das Damoklesschwert, das über der Situation schwebt". Auf Friedmans Frage, ob man der Atommacht Russland nicht alle Macht überlasse, wenn man ihr freie Hand gebe, entgegnet Varwick: "Das ist eine Dilemma-Situation, die man nicht auflösen kann."

Ganz fair sind die Bedingungen für Varwick nicht: Mit Masala, Deitelhoff und Friedman sitzt er drei Personen gegenüber, die seine Position alles andere als überzeugend finden. Aber obwohl es mitunter laut wird, obwohl die Meinungsunterschiede blieben, fasst die Debatte gut zusammen, worüber in Deutschland seit fast einem Jahr gestritten wird.

So sieht Varwick die unmittelbare Schuld für den Krieg bei Russland, eine Mitverantwortung aber auch bei der NATO. Der Grund: Auf ihrem Bukarester Gipfel 2008 habe das Bündnis beschlossen, dass die Ukraine und Georgien NATO-Mitglieder werden sollen. Es sei naiv gewesen, zu ignorieren, dass Russland in der Ukraine "vitale Interessen" habe.

"Es ging nicht um die NATO-Mitgliedschaft", widerspricht Masala

Masala kontert, der NATO-Beschluss von 2008 sei ein Kompromiss gewesen, mit dem Deutschland und Frankreich verhindern wollten, dass die Ukraine sofort in die NATO aufgenommen werde. Das Thema sei dann auf die lange Bank geschoben worden, seit Bukarest sei "mit Blick auf die Mitgliedschaft nichts passiert". Noch kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hätten sich Amerikaner und Europäer in Moskau "die Klinke in die Hand gegeben", um Putin zu versichern, dass die Ukraine nicht NATO-Mitglied wird. Der Westen habe dabei übersehen, dass es den Russen überhaupt nicht um die NATO-Mitgliedschaft ging. "Den Russen ging es um eine historische Mission." Russland folge nicht sicherheitspolitischen Erwägungen, sondern verfolge "ein neoimperiales Projekt".

Streit gibt es auch um Varwicks "Rutschbahn". "Es rutscht hin zu einem Punkt, wo wir entweder mit einem hohen Blutzoll doch die russischen Ziele akzeptieren oder voll dagegenhalten müssen und dann am Ende auch mit eigenen Soldaten", sagt er. Deitelhoff widerspricht: Da rutsche nichts, die Entsendung von Truppen wäre eine Entscheidung - und zwar eine, die alle NATO-Staaten kategorisch ausgeschlossen haben. Masala geht gegen den Strich, dass Varwick so tue, "als ob die Ukraine kein Sagen in dieser Frage hätte". Die große Mehrheit der Bevölkerung der Ukraine wolle sich gegen Russland verteidigen. Das bedeute nicht, dass der Westen alles machen müsse, was die Ukraine sich wünsche. Es gebe keinen Automatismus, keine "Rutschbahn".

Es ist ein Treffen der Politologen: Deitelhoff ist Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Chefin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Varwick ist ebenfalls Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, mit Masala ist er trotz allen Streits per Du. Seit Beginn des Kriegs vertritt er die These, dass Waffenlieferungen falsch sind und die NATO mitverantwortlich für den russischen Überfall ist: "In dieser Konstellation, in der Russland zu allem entschlossen ist, werden Waffenlieferungen nichts am Kräftegleichgewicht ändern, sondern den Konflikt nur blutiger und länger machen", sagte er im März 2022 in einem Doppelinterview mit ntv.de. Gerade hat er das "Manifest für den Frieden" von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht unterzeichnet, in dem ein sofortiges Ende der Waffenlieferungen gefordert wird.

"Das stimmt einfach nicht", ruft Masala

Masala ist ebenfalls Politologie-Professor; er hat einen Lehrstuhl für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Das Schwarzer-Wagenknecht-Manifest hat er scharf kritisiert: "Die Verfasserinnen sind nicht dumm, sie wissen genau, wozu es führt, wenn die Waffenlieferungen, wie sie fordern, eingestellt werden. Und sie nehmen es wissentlich und billigend in Kauf", twitterte er noch kurz vor der Diskussion. Waffenlieferungen hätten das Ziel, "die militärische Kosten-Nutzen-Kalkulation der Russen" zu verändern, damit Russland bereit zu echten Verhandlungen sei, sagt er im "Streitclub" in Frankfurt. "Waffenlieferungen sind die Voraussetzung dafür, dass Diplomatie überhaupt irgendwann mal in diesem Konflikt eine Chance hat."

Dass Varwick dies anders sieht, liegt auf der Hand - der Streit um die Waffenlieferungen ist ja der Kern des Konflikts. Deitelhoff will von ihm wissen, wie denn die im "Manifest" geforderten Verhandlungen realisiert werden sollen, ohne dass die Ukraine Russland "zum Fraß" vorgeworfen werde. Statt einer Antwort beklagt Varwick, dass denen, die für mehr Waffenlieferungen seien, diese Frage nicht gestellt werde. "Das stimmt einfach nicht", ruft Masala mit erkennbar erhöhtem Puls. Und gibt seine Antwort: "Verhandlungen werden geführt auf dem Status quo der Kriegsgewinne." Leider führt seine Intervention dazu, dass Varwick die Frage nicht beantworten muss.

Dann geht es noch um die Frage, welche Kompromisse die Ukraine in etwaigen Verhandlungen machen müsse. Varwick sagt, in einer Verhandlungslösung werde Russland einen Teil der Ukraine behalten. Wo sei da der Kompromiss, will Masala wissen. "Das ist kein Kompromiss, Johannes, das ist ein Entgegenkommen für russische Interessen."

"Dann hätten wir ein Desaster", sagt Varwick

Ausgehend von Varwicks Annahme, dass Waffenlieferungen gefährlich für Europa seien, fragt Deitelhoff ihn, ob er bereit sei, "die Ukraine für Europas Sicherheit zu opfern". Eine direkte Antwort vermeidet Varwick auch hier, er erwidert, dass der Konflikt eingefroren werden müsse. Und ergänzt, Russland zeige eine "unglaubliche Entschlossenheit" und eine "unglaubliche Brutalität, der wir nichts entgegensetzen können".

Masala sieht darin einen "Logik-Bruch". Wenn Russland so entschlossen sei, warum sollte es dann ein Interesse daran haben, den Konflikt einzufrieren? Die russische Perspektive sei: "Wir können noch gewinnen, wir können immer mehr erobern. Da gibt's kein Einfrieren."

An dieser Stelle wird deutlich, dass Varwick und Masala über zwei völlig verschiedene Russlands reden. Varwicks Russland ist offen für rationale Erwägungen, Masalas Russland verfolgt eine neoimperiale Expansion. "Wenn das Ziel Russlands wäre, die Staatlichkeit der Ukraine zu vernichten, dann hätten wir ein Desaster", räumt Varwick ein, dann wäre ein Einfrieren tatsächlich nicht möglich. "Aber ich sehe das nicht."

Das ist die zentrale Schwäche in Varwicks Argumentation. Putin hat mehrfach deutlich gemacht, dass er die Ukraine für einen historischen Fehler hält, dass der Krieg dazu dient, diesen Fehler zu korrigieren. Täglich wird im russischen Fernsehen darüber gesprochen, dass die Ukraine ausgelöscht werden müsse. Es gibt Gründe, das, was Russland in der Ukraine macht, einen Genozid zu nennen. "Nächstes Mal einfach mal einen Osteuropaexperten einladen", kommentiert der Osteuropa-Historiker Jan Claas Behrends auf Twitter. "Oder noch besser: eine Ukrainerin."

Quelle: ntv.de

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