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Der Churchill von Kiew? Ukraine verliert mit Johnson "wahren Freund"

Das Bild dürfte ihm gefallen: Ein Porträt von Johnson in einer Galerie in Kiew.

Das Bild dürfte ihm gefallen: Ein Porträt von Johnson in einer Galerie in Kiew.

(Foto: REUTERS)

Johnsons Rücktritt löste manche Genugtuung aus. Nicht so in der Ukraine. Ihr war Johnson ein wichtiger Unterstützer. Oft telefonierte er mit Präsident Selenskyj und arbeitete dessen Einkaufsliste ab. Die Ukrainer danken das "Borys Johnsoniuk".

Neunzig Minuten nach seinem Rücktritt als britischer Premierminister rief Boris Johnson den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an. Er versicherte Selenskyj, dass sein Volk die uneingeschränkte Unterstützung Großbritanniens im Kampf gegen Russland genieße. "Du bist ein Held, Wolodymyr", sagte er nach Angaben eines Mitarbeiters, der das Gespräch mitgehört hat. "In diesem Land liebt dich jeder."

Die Episode ist symptomatisch für die Entwicklung Johnsons seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar. Seither sei die britische Unterstützung sehr deutlich gewesen, sagen Beamte in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Das Königreich avancierte zu einem der wichtigsten Waffenlieferanten. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bezeichnete Johnson in einer Stellungnahme seines Ministeriums denn auch als "wahren Freund der Ukraine".

Das wirft die Frage auf, ob die Ukraine auch beim nächsten Premierminister auf eine solche Unterstützung zählen kann. Johnson sagte Selenskyj, er habe noch "ein paar Wochen" Zeit, um die Unterstützung aufrechtzuerhalten, so der Berater. Die britische Führung befindet sich jedoch in einer Übergangsphase.

Bis zu diesem letzten Telefonat hatte Johnson seit Beginn des Krieges 21 Mal mit Selenskyj gesprochen - im Schnitt also alle sechs Tage. Ihre Unterredungen begannen oft damit, dass Selenskyj eine Art "Einkaufsliste" mit Waffen vorlas, sagten drei britische Beamte, die mit der Angelegenheit vertraut sind. Danach schaute Johnson, was er tun konnte.

London lieferte zahlreiche Waffen

So vereinbarte die britische Regierung etwa mit Norwegen, dass Großbritannien Mehrfachraketenwerfer an die Ukraine liefert und im Gegenzug ähnliche, ältere Ausrüstung aus Norwegen zur Modernisierung erhält - eine Art umgekehrter "Ringtausch" nach dem deutschen Modell mit osteuropäischen Staaten. Im Mai dankte der ukrainische Verteidigungsminister Olexii Resnikow Großbritannien zudem für Hilfe bei der Lieferung von dänischen Schiffsabwehrraketen. Großbritannien schickte Militärattachés in ein Dutzend Länder, um nach Waffen für die Ukraine zu suchen.

Insgesamt hat Großbritannien der Ukraine 2,3 Milliarden Pfund - umgerechnet 2,7 Milliarden Euro - an militärischer Unterstützung zugesagt, die zweithöchste Summe nach den Vereinigten Staaten. In der offiziellen Summe sind Waffenkäufe enthalten, nicht aber die logistische Unterstützung, die Großbritannien parallel dazu angeboten hat, wie das britische Verteidigungsministerium erklärt. "Großbritannien hat sich unter den Verbündeten und Partnern als führend bei der Bereitstellung von Hilfe für die Ukraine erwiesen", lobte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Oberstleutnant Anton Semelroth.

Aber angesichts der Wirtschaftskrise und steigender Lebenshaltungskosten in Großbritannien könnte es schwierig werden, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, die Ukraine weiter in einem Krieg zu unterstützen, der Jahre dauern könnte, sagte James Rogers, Mitbegründer der in London ansässigen außenpolitischen Denkfabrik Geostrategy.

Straße in Odessa nach Johnson benannt

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Johnson stellte sich selbst gerne als modernen Winston Churchill dar und sagte in einer Rede vor dem ukrainischen Parlament im Mai, der Kampf mit Russland werde die "schönste Stunde" der Ukraine sein - unter Berufung auf Churchills Erklärung, als Großbritannien im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland überfallen und besiegt zu werden drohte. Auffallend war, dass Johnson immer dann nach Kiew reiste oder neue Waffenlieferungen ankündigte, wenn er innenpolitisch besonders unter Druck stand.

Auf jeden Fall hat das Vorgehen seine und die britische Popularität im Ausland erhöht. In einer Umfrage in westlichen Ländern im Juni wurde die britische Reaktion auf den Einmarsch Russlands in der Ukraine zur besten gewählt. In der Ukraine verkauft ein Café in Kiew übrigens ein Apfeldessert namens Borys Johnsoniuk, eine ukrainische Version des Namens des Premierministers. In der südlichen Hafenstadt Odessa wurde eine Straße nach ihm benannt. Und in einem Museum im Zentrum von Kiew sind Porträts von Johnson zu sehen, die ihn als Krieger in den Farben der ukrainischen Flagge zeigen.

Quelle: ntv.de, Elizabeth Piper, Andrew MacAskill und Tsvetelia Tsolova, rts

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