
Olena Selenska Ende Juni bei einem Interview mit einem italienischen TV-Sender.
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Nach vier Monaten Krieg spüre jeder in der Ukraine, "dass unser psychologischer Zustand nicht so ist, wie er sein sollte", sagt die ukrainische First Lady dem Magazin "Time". Sie will helfen, dass posttraumatischer Stress behandelt werden kann.
Die ukrainische Präsidentengattin Olena Selenska sorgt sich um die psychische Stabilität der Gesellschaft ihres Landes. Der Krieg könnte "gewaltige Folgen" für die Ukraine haben, "wenn wir nach dem Krieg mit posttraumatischem Stress konfrontiert werden, der unbehandelt bleibt", sagte die Frau des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dem US-Magazin "Time".
Auch ihre eigene Familie steht angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine unter psychischem Druck. "Jeden Tag liest und hört man davon, man saugt es auf, und das hat Auswirkungen", sagte Selenska. "Jeder von uns, auch ich, hat gespürt, dass unser psychologischer Zustand nicht so ist, wie er sein sollte." Nach vier Monaten Krieg "geht es keinem von uns gut".
"Man weiß nicht, was in zwei Stunden passiert"
Der Beginn des Kriegs zwang die Selenskyjs, sich zu trennen. Während der Präsident in Kiew blieb, mussten seine Frau und die beiden Kinder sich verstecken. Freunde in Europa hätten der Familie angeboten, sie für die Dauer des Krieges aufzunehmen, schreibt "Time". Aber Selenska und ihre Kinder seien in der Ukraine geblieben. Sie seien gezwungen gewesen, umherzuziehen, um der Gefahr eines Angriffs zu entgehen; Selenskyj hatte zu Beginn des Kriegs gesagt, er selbst sei für Russland das Ziel Nummer eins, seine Familie das Ziel Nummer zwei. Mittlerweile sehen sie sich häufiger; das Interview wurde nach Angaben von "Time" im Amtssitz des Präsidenten in Kiew geführt.
"Man hofft einfach, dass man jetzt in Sicherheit ist", sagte Selenska über die ersten Tage des Kriegs. "Man weiß nicht, was in zwei Stunden passieren wird." Aus Sicherheitsgründen war es den dreien zunächst nicht gestattet, per Videoverbindung mit dem Präsidenten zu kommunizieren. Wochenlang sprachen sie nur über gesicherte Telefonverbindungen, die im Voraus vereinbart werden mussten. Dafür sahen die Kinder ihren Vater oft im Fernsehen.
Mittlerweile hat Selenska sich zur Aufgabe gemacht, dem Land bei der Bewältigung des kollektiven und persönlichen Traumas zu helfen. Am Muttertag traf sie Jill Biden, die First Lady der Vereinigten Staaten, in einer Schule in der Westukraine, die als Unterkunft für vertriebene Familien dient. Seither trat sie häufiger als Fürsprecherin der Ukraine auf der internationalen Bühne auf. Im Mai startete sie eine Initiative der ukrainischen Regierung, um psychologische Unterstützung für Ukraine zu organisieren. Diese Initiative hat bereits damit begonnen, Trauma-Berater auszubilden, psychologische Hotlines einzurichten und ausländische Experten für klinische Unterstützung heranzuziehen.
Vorbehalte gegen Psychotherapien
In der Ukraine gebe es "ein besonderes Misstrauen gegenüber Begriffen, in denen das Wort 'psycho' vorkommt", sagte sie "Time", Psychotherapie assoziiere man eher mit staatlichen Asylen, in denen Kranke isoliert würden. Früher in der Sowjetunion habe die Einstellung gelautet: "Komm damit klar, komm darüber hinweg, und wenn du dich beschwerst, bist du schwach."
Nach Angaben von "Time" schätzt das ukrainische Gesundheitsministerium, dass 15 Millionen Menschen - fast ein Drittel der Bevölkerung - psychologische Betreuung benötigen. Rund 8 Millionen Menschen seien durch den Krieg vertrieben worden. Die Zahl der Militärangehörigen habe sich seit Beginn der Invasion auf mehr als 700.000 ungefähr verdreifacht, vermutlich würden viele von ihnen während ihres Dienstes traumatisiert.
Sie selbst erhält Unterstützung von der First Lady Israels, Michal Herzog, und der polnischen Präsidentengattin Agata Kornhauser-Duda. "Unser Club war eine große Hilfe", sagte Zelenska. "Wir verstehen uns."
Quelle: ntv.de