Politik

Grünen-Kandidatin gescheitert? Und Baerbock lacht trotzdem

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In Mainz erwarten Baerbock zur Mittagszeit mehr als 500 Zuhörer und Zuhörerinnen.

(Foto: Sebastian Huld)

Die erste Kanzlerkandidatur der Grünen hat den Bundestagswahlkampf 2021 mitgeprägt. Doch Annalena Baerbocks Ziel, Bundeskanzlerin zu werden, wird sie wohl deutlich verfehlen. Trotz mancher Tiefschläge tourt die Grünen-Vorsitzende fröhlich durch die Republik. Das erstaunt, hat aber Gründe.

Sollte es die von Kritikern viel beschworene Grünen-Blase wirklich geben, dann ist sie derzeit nicht in Berlins Stadtteil Prenzlauer Berg zu finden. Zumindest nicht nur dort. Die Blase ist derzeit in Deutschland unterwegs, am vergangenen Montag beispielsweise in Mainz und Mannheim. Die Grünen-Blase ist eckig und fliegt nicht, sie ist ein grün beklebter Bus, wie ihn große Musikbands auf Konzerttournee nutzen. Der rollt durchs Land und beschert seiner wichtigsten Passagierin, der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, zuverlässig Glücksmomente. Wann immer der Bus an einem Zielort stoppt, steigt sie aus, wird umjubelt, hält eine Wahlkampfrede und wird noch mehr umjubelt. Dazu Selfies, Autogramme und aufmunternde Worte der versammelten Baerbock-Fans. Mögen die persönlichen Umfragewerte nicht überragend sein, viele Menschen im Land freuen sich aufrichtig, die Grünen-Vorsitzende zu sehen.

Fernab der Politikinsel Berlin ist Baerbock nicht die - aller Voraussicht nach - gescheiterte Kanzlerkandidatin. Sie ist für ihre Unterstützer noch immer die Hoffnung auf eine andere Politik, die nicht nur, aber vor allem den Klimaschutz in den Mittelpunkt stellt; eine, die so anders als die beiden älteren Herren ist, die für Union und SPD ins Kanzleramt streben. Doch die Feelgood-Reise durch Deutschland steuert ihrem unvermeidlichen Ende entgegen. Am Freitag ist Wahlkampfabschluss in Düsseldorf, dann geht es zurück nach Berlin, zum Showdown des Politiksommers: dem Wahltag. Spätestens am Sonntagabend wird Bilanz gezogen, auch über die erste Kanzlerkandidatur von Bündnis90/Die Grünen.

Erfolg ist Frage des Maßstabs

Weil sonst schon alles gesagt ist zu diesem Wahlkampf, ist die Auswertung des Wahlkampfjahrs 2021 längst angelaufen. Nicht nur in den Medien, auch die Parteien sind bemüht, dem ungefähr zu erwartenden Ergebnis ihrer jeweiligen Kandidaten einen günstigen Bewertungsrahmen zu zimmern. Wie also ist sie gelaufen, diese Kandidatur? Und vor allem: Wie war die Kandidatin?

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Der Wahlkampfbus am Kaisertor in Mainz.

(Foto: Sebastian Huld)

Um das zu beantworten, kann man drei sehr verschiedene Maßstäbe anlegen: den der Partei aus dem Sommer letzten Jahres, als der Anspruch aufs Kanzleramt erstmalig angemeldet wurde. Den aus dem vergangenen Frühjahr, als die Grünen plötzlich in den Umfragen führten. Und den vom Wahlergebnis 2017. Denn im Vergleich zu den 8,9 Prozent von vor vier Jahren muten auch die 15 bis 17 Prozent aus den aktuellen Umfragen noch beachtlich an, zumal erstmals mehrere Grüne als Direktkandidaten einziehen dürften.

Solche Werte wären dennoch eine herbe Enttäuschung für die Grünen, daraus macht Baerbock keinen Hehl: "Sie alle kennen auch Umfragen und ich auch", sagt die 40-Jährige, als sie am Mittag nach dem letzten TV-Triell am Mainzer Kaisertor auftritt. Für eine grün geführte Regierung "braucht es noch ein paar mehr Stimmen", untertreibt sie und ruft die für diese Tageszeit erstaunlich zahlreich am Rheinnufer versammelten Zuhörer auf, doch noch einmal im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis für die Idee einer "Klimaregierung" zu werben, wie sie die Grünen in der kommende Legislaturperiode anstreben. Damit der Aufruf nicht allzu verkrampft wirkt, schlägt Baerbock den Zuhörerinnen gar einen Wahlwerbe-Anruf beim Ex-Mann vor, so es den gibt. Es wird gelacht, auch am Abend, als sie denselben Witz in Mannheim wiederholt.

Baerbock kämpft nicht allein

Baerbocks halbstündige Wahlkampfreden variieren zwar leicht, sind aber im Kern natürlich immer gleich: die Situation der Pflege, ein gerechteres Gesundheitssystem, mehr Engagement für Kinder und ein besseres Bildungssystem, soziale Gerechtigkeit und Steuern, der Klimawandel und die Transformation der Wirtschaft als Modernisierungsprojekt für das Industrieland Deutschland. "2,7 Grad Celsius mehr am Ende des Jahrhunderts bedeuten einen sieben Meter höheren Meeresspiegel", sagt Baerbock. Das hat sie schon am Abend des Triells gesagt, allerdings erwarten wissenschaftliche Prognosen einen solchen Anstieg erst in 300 Jahren, sollte das Grönlandeis komplett abschmelzen.

Dass die Mahnung vor apokalyptischen Klimaszenarien als Stimmungshöhepunkt herhalten muss, gehört zu den Eigentümlichkeiten jedes Grünen-Wahlkampfs. Wenn wir nicht gewinnen, ist die Welt verloren, lautet die Botschaft. Das ist nicht eben positiv und bürdet Baerbocks Mission eine immense Fallhöhe auf. Nach eigener Lesart hat sie im Falle einer Niederlage auch selbst ein wenig die Welt auf dem Gewissen. Das ist fast noch vermessener als der Griff nach dem Kanzleramt ohne jede Regierungserfahrung.

Textsicher, schwungvoll und oft strahlend trägt Baerbock ihre Rede vor, das Ergebnis von Routine. Es ist Baerbock nicht anzusehen, dass sie erst kurz vor Mitternacht, gleich nach dem letzten TV-Triell, in ihren Wahlkampfbus gestiegen ist und die Strecke bis Mannheim in ihrem Bett im wackligen Obergeschoss des Busses verbracht hat. Als sie mittags, im Anschluss an die Rede der rheinland-pfälzischen Spitzenkandidatin Tabea Rößner, auf die Bühne tritt, wirkt die Kandidatin frisch. Baerbocks türkise Lederjacke sitzt etwas lockerer als noch zu Beginn des physisch belastenden Wahlkampfs.

Links und rechts von Baerbock sitzen die grünen Landesministerinnen Anne Spiegel und Katharina Binz. Am Abend in Mannheim redet vor Baerbock die 27-jährige Spitzenkandidatin Melis Sekmen. Baerbock trifft auf ihrer Tour nicht nur Anhänger, sondern lauter Grüne-Politikerinnen wie sie selbst eine ist: weiblich, jung, viele Mütter. Die Erfahrung: Sie kämpft gar nicht so allein, wie es von Berlin aus zuweilen den Anschein hat.

Eine grüne Kanzlerkandidatur war richtig

Die Grünen-Vorsitzende legt seit Anfang August einen sauberen Wahlkampf hin, auch im TV. Nicht jede Fragerunde oder Debatte gerät ihr gleich zur Sternstunde, doch immer wieder kann sie Glanzpunkte setzen, in denen es ihr gelingt, ihre Konkurrenten Armin Laschet und Olaf Scholz als Kandidaten von gestern darzustellen. Das schlägt sich in den Umfragen zwar nicht unmittelbar nieder, auch nicht in jenen kurz nach den TV-Triellen. Die Medienkritiken fallen aber positiv aus, die eigene Basis ist begeistert. Für Politikerinnen und Politiker ist das keine schlechte Arbeitsgrundlage. Dass der Wahlkampf von Mai bis Juli zeitweise desaströs verlief, ist in den Hintergrund gerückt. Zumal Laschet demonstriert hat, dass auch regierungserfahrene Kandidaten in der Mediendemokratie mächtig ins Straucheln geraten können.

In einigen Berichten war zuletzt zu lesen, Baerbock spiele befreiter auf, seit ihr nicht mehr die Aussicht auf die Kanzlerschaft auf den Schultern laste. Richtig ist: Auch Baerbock und ihr Co-Vorsitzender Habeck messen die erste Kanzlerkandidatur ihrer Partei wieder an den Zielen, die sie in den Monaten vor Baerbocks Nominierung ausgegeben hatten. Erstens sollte die kommende Bundesregierung nicht an den Grünen vorbei gebildet werden können. Das könnte klappen. Zweitens wurde die Kanzlerkandidatur damals als ein Versuch beschrieben, das Unmögliche zu schaffen. Daraus folgt heute die Botschaft: Es ist kein Scheitern, das Unmögliche nicht zu schaffen. Und eines stimmt ja: Die Grünen haben dem Bundestagswahlkampf thematisch ihren Stempel aufgedrückt. Ob Laschet und Scholz in einem Duell so viel über Klima diskutiert hätte, wie sie es in den Triellen taten?

Baerbocks Problem ist, dass es da noch einen dritten möglichen Maßstab gibt, an dem sie sich messen lassen muss. Und der lautet: 28 Prozent. Das Umfragehoch im RTL/ntv-Trendbarometer, nachdem Habeck seine Co-Vorsitzende zur Kanzlerkandidatin ausgerufen hatte, mag ebenso wenig realistisch gewesen sein wie ein Szenario, in dem SPD oder Union als Juniorpartner Baerbock ins Kanzleramt geleiten. Dennoch zeigt der Wert, was für die Grünen drin gewesen wäre - wenn in diesem Herbst die letzte Regierung gewählt wird, die den Grünen zufolge noch entscheidend gegen die Erderwärmung vorgehen kann. Die womöglich einmalige Chance auf das Unmögliche war da. Mit Betonung auf "war".

Unter Beschuss

Stattdessen aber brach die Partei im Mai brutal ein. Wegen Ungenauigkeiten in Baerbocks veröffentlichtem Lebenslauf, wegen haufenweise abgeschriebener Passagen in Baerbocks eilig dahingeschriebenem Buch, wegen nachgeholter Einkünftemeldungen beim Bundestag, auch wegen des wenig souveränen Umgangs mit der öffentlichen Kritik. Ob sich Baerbock nun hatte größer machen wollen, als sie es mit ihrer geringen Erfahrung war, oder ob es sich nur um eine Reihe grober Nachlässigkeiten handelte: Baerbock und ihrem Team sind handwerkliche Fehler unterlaufen, die der Union und vor allem der seit dem Sommer 2020 auf Scholz festgelegten SPD nicht passiert wären. Aber diese Parteien bewarben sich auch nicht zum ersten Mal aufs höchste Regierungsamt der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt.

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Grüne Oase: Sitzlounge über der Fahrerkabine des Wahlkampfbusses.

(Foto: Sebastian Huld)

Die Quittung für diese - freundlich ausgelegt - Unbedarftheit war das höchstmögliche Lehrgeld: vernichtende Kritik auch aus der seriösen Presse, Spott, Häme und Hetze aus dem Lager derjenigen, denen die Grünen verhasst und für die junge Frauen auf dem Weg nach oben per se eine Provokation sind. Was haben die teils heftigen Attacken, die Lügen und auch die Kampagnen gegen ihre Person mit Baerbock gemacht? Öffentlich äußert sie sich dazu kaum. Eine Bundeskanzlerin zeigt keine Schwächen. Da darf sich eine Bundeskanzlerkandidatin ohne Regierungserfahrung erst recht nicht verletzlich zeigen, so viel Panzer muss sein. Legt Baerbock ihn unter vier Augen ab - etwa in der mit Topfpflanzen und grünen Sofas dekorierten Lounge über dem Fahrerhaus ihres Doppelstockbusses - sieht das schon anders aus. Aber aus solchen Gesprächen darf nicht zitiert werden.

Doch viel Geheimnis ist da nicht: Wer Baerbock im Juni hat auftreten sehen, erlebte eine Frau, der plötzlich die Stärke des natürlichen Auftretens und die jugendliche Frische abhandengekommen waren. Auf Fehlervermeidung bedachte Schachtelsätze im Stil altgedienter Politiker waren das Gegenteil dessen, womit die Partei eigentlich punkten wollte: dem Versprechen von etwas Neuem. Baerbock sprach wie die anderen Spitzenpolitiker, nur ohne vergleichbare Vita. Eine Herausforderin darf nicht aus der Defensive agieren. Baerbocks Griff nach dem Kanzleramt war in seiner Anmaßung so frech, dass er, wenn überhaupt, nur aus der Offensive funktionieren konnte.

Immer weiter

Erst die in der zweiten Augustwoche begonnene Wahlkampftour, als Baerbock die Sympathie ihrer unverdrossenen Anhänger zu spüren bekam, und die TV-Formate, in denen sie Bürgernähe und Schlagfertigkeit demonstrieren konnte, lösten den Krampf allmählich - und wahrscheinlich zu spät: Denn auch wenn der Wahlkampf der Grünen seit bald zwei Monaten weitgehend glatt läuft, hat die Partei in den Umfragen verloren. Seit immer mehr Menschen sich für Bundesfinanzminister Scholz begeistern können, wächst die SPD auf Kosten der Grünen.

So läuft das immer: Wenn es auf ein knappes Rennen zwischen SPD und Grünen auf der einen sowie Union und FDP auf der anderen Seite hinausläuft, profitiert im linken Lager die Partei, die kurz vor Schluss vorne liegt. Menschen, die die Union verlieren sehen wollen, stimmen dann taktisch für die jeweils aussichtsreichere der beiden Parteien. So gerieten die Grünen schon bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz unter Malu Dreyers Räder. Am selben Tag wurde die SPD in Baden-Württemberg an den Rand der Einstelligkeit kretschmannisiert.

Und Baerbock? Macht unverdrossen weiter. Sie erinnert an 2017, als die Grünen höher als nach Umfragen erwartet abschnitten. Und wer weiß: Sollten Ende kommender Woche noch immer alle Umfragen auf eine Niederlage der Union deuten, könnten deren Wähler die Lust an der Stimmabgabe ganz verlieren. Der Wiedereinzug der Linken ist ebenfalls nicht garantiert, wenn auch wahrscheinlich. Zumindest in diesem Wahlkampf, wo die Umfragen so heftig ausschlagen wie nie, ist noch zu viel Musik drin, um das Spiel zu früh abzuschenken. Auch aus der Partei ist noch kein Murren über Baerbock zu vernehmen. Den Wert von innerparteilicher Geschlossenheit in scheinbar aussichtsloser Lage haben SPD und Union in diesem Jahr auf höchst gegensätzliche Weise demonstriert.

Wahlkampf hat Spuren hinterlassen

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Baerbock lauscht in Mannheim einer Frage aus dem Publikum.

(Foto: Sebastian Huld)

Und es bleibt ja dabei: Gemessen an 2017 waren 2021 und die vorangegangenen Jahre unter dem Vorsitz von Baerbock und Habeck ein großer Sprung für die Grünen. Die Mitgliederzahl hat sich vervielfacht, das Wahlkampfbudget liegt auf SPD-Niveau. Der Kanzleranspruch von Olaf Scholz wurde belächelt, nicht der der Grünen. Der Rest sind Learnings, wie es neudeutsch heißt; Erkenntnisse durch Erfahrungen. "Dann halt beim nächsten Mal", könnte die Partei sagen, wäre sie nicht getrieben von der Überzeugung, dass es wegen der Klimakrise mehr denn je auf die kommende Regierung ankommt. Hinzu kommt: Das erklärte Ziel von Baerbock und Habeck, neue Milieus zu erschließen, ist der Partei nur bedingt gelungen: Im Osten und auf dem Land sind sie weiterhin weit vom Status der Volkspartei entfernt. Die Furcht vor höheren Lebenskosten und automobilem Minimalismus unter einer grün geführten Bundesregierung ist in nicht-akademischen Wählerschichten unverändert groß.

Zudem hat der Wahlkampf Spuren hinterlassen. Nicht nur beim Duo Baerbock/Habeck, sondern auch in der Bundesgeschäftsstelle, wo nicht alle leitenden Mitarbeiter zum Kreis der Baerbock-Vertrauten gehören und damit auch nicht Teil der Feelgood-Tour sind. Ob Risse zurückbleiben und wer die dann kitten soll, ist vorerst offen. Wenn Baerbock und Habeck beide Ministerämter übernehmen, braucht es wegen der Trennung von Partei- und Regierungsamt bei den Grünen neue Parteivorsitzende. Die müssen dann mit in der Partei bestens vernetzten Bundesministern arbeiten sowie mit einer erheblich vergrößerten Bundestagsfraktion, darunter viele Neueinsteiger aus der Fridays-for-Future-Bewegung, die erst noch vom Wert von Kompromissen in Koalitionen überzeugt werden müssen.

Als der fünftletzte Wahlkampftag fast geschafft ist, haucht auf dem ebenfalls gut gefüllten Toulonplatz in Mannheim die Sängerin CATT ins Mikrofon: "Because there is new beginnings all the time". Dann tritt Baerbock auf die Bühne, lacht ins Publikum und legt los.


Hinweis: In einer früheren Version war Baerbocks Meeresanstieg-Aussage einem IPCC-Report zugeschrieben worden. Leser-Hinweise darauf, dass Baerbock falsch liegt, sind richtig.

Quelle: ntv.de

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