Täuschende Einigkeit Vertrauen der Ukrainer in den "Telemarathon" sinkt


Wirklich gute Nachrichten sind selten geworden in der Ukraine: Blick aus einem Fenster in Charkiw nach einem russischen Angriff am 30. Dezember.
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Seit Kriegsbeginn senden die ukrainischen Nachrichtenkanäle ein gemeinsames Programm. Das gerät zunehmend in die Kritik. Einige Nutzer weichen auf Telegram aus. Es gibt aber auch eine positive Entwicklung.
Der seit fast zwei Jahren laufende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch die ukrainische Medienlandschaft gründlich verändert - zum Guten und zum Schlechten. Gerade die stets bunte ukrainische Fernsehwelt sieht seit dem 24. Februar 2022 völlig anders aus. Während sie vor der russischen Großinvasion von mehreren nationalen Sendern geprägt wurde, die von Oligarchen mit unterschiedlichsten politischen Interessen dominiert waren, herrscht im TV nun eine täuschende Einigkeit.
Denn nach wie vor wird der für die mehr als 20 ukrainischen Nachrichtenkanäle verpflichtende Nachrichtenmarathon "Vereinigte Nachrichten" ausgestrahlt. Für nationale Sender ist dieser zwar nicht obligatorisch, eine Reihe von Kanälen überträgt ihn aber trotzdem - nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, denn in Zeiten des Einbruchs der Werbeeinnahmen sind staatliche Dotationen oft überlebenswichtig. Die finanzielle Lage ist für einige Medienhäuser insgesamt derart kritisch, dass selbst Rinat Achmetow, Großunternehmer und reichster Mann des Landes, sein Imperium aufgelöst hat - und zu diesem gehörte der beliebteste Fernsehsender des Landes.
Doch obwohl die Austragung des Telemarathons für Nachrichtensender mit der Zeit verpflichtend wurde, kam diese Idee ursprünglich nicht vom Staat. Sie entstand schon am 24. Februar 2022, als die Fernsehsender mit der Evakuierung ihrer Mitarbeiter in die Westukraine beschäftigt waren und keiner durchgehend senden konnte. Die Eigentümer der Medienhäuser sprachen sich daher ab und machten ein gemeinsames Programm. Das lief gut: In chaotischen Zeiten konnte der Marathon Orientierung geben, indem er etwa zügig regionale Verwaltungschefs oder Militärs schaltete, die im Rahmen des unter Kriegsrecht Erlaubten ihre Einschätzungen und Informationen teilten.
"Unsicher, ob der Marathon 2024 überlebt"
Nachdem aber die russische Armee die Vorstädte von Kiew räumen musste und sich die Lage an der Front stabilisiert hatte, wurden die kritischen Stimmen immer lauter, ob ein derartiges Programm rund um die Uhr noch angebracht war. Dazu kam, dass die Sender im Oktober 2022 wieder mit einem Unterhaltungsprogramm anfingen, das den Marathon der Nachrichtensender in den Schatten stellte. Weiterhin werden unterschiedliche Slots darin von den unterschiedlichen teilnehmenden Sendern produziert. Neben Nachrichten, Schalten und Studiogästen werden auch Dokumentationen ausgestrahlt - und zu den Kritikpunkten gehört stets, dass der Marathon einen zu optimistischen Blick auf die Lage gibt und manche Probleme verschweigt.
Der neue Vorsitzende des Meinungsfreiheitausschusses im ukrainischen Parlament, Jaroslaw Jurtschyschyn von der oppositionellen Fraktion "Stimme", steht dem Marathon in seiner heutigen Form zwar skeptisch gegenüber. Mit dem Vorwurf, dort werde geschönt berichtet, ist er aber nicht einverstanden. "Wenn der Sprecher der Luftwaffe zum Beispiel über abgefangene Drohnen und Raketen berichtet, ist das eine positive Sache. Das ist keine Verschönerung der Realität, sondern Realität", betonte Jurtschyschyn gegenüber ukrainischen Medien. "Und wenn wir nicht über unsere Verluste oder die Positionen unserer Truppen sprechen und um Schweigen bitten, schützen wir damit unsere Gesellschaft und das Militär. Es soll für den Feind schwieriger werden, Informationen über uns zu bekommen, nicht umgekehrt."
Die ursprüngliche Idee des Marathons hält der Abgeordnete für richtig. "Wenn wir aber jetzt nicht Wege finden, um ihn zu verbessern, wird er sich erledigen. Ich wäre mir dann unsicher, ob er 2024 überleben wird." Tatsächlich ist das Vertrauen in das einheitliche Informationsprogramm im Laufe des letzten Jahres gefallen. Während dem Marathon dem Kiewer Internationalen Soziologie-Institut zufolge im Mai 2022 noch 69 Prozent der Ukrainer vertrauten, lag diese Zahl im Dezember 2023 bei 43 Prozent. 38 Prozent vertrauen dem Programm nicht, zusätzliche 19 Prozent können sich nicht entscheiden. Und obwohl die Vertrauensbalance damit knapp positiv bleibt, ist es angesichts dieser Zahlen nicht verwunderlich, dass auch im Kulturministerium von einer möglichen Veränderung des Formats gesprochen wird.
Vertrauen in die Medien sinkt generell
Der vollständige Verzicht auf ein gemeinsames Angebot ist dennoch unwahrscheinlich. So war der Marathon nicht zuletzt im Winter 2022/23 wichtig, als sich die Menschen in Kiew während der russischen Angriffe ohne Strom und ohne Mobilfunk über Bildschirme in den U-Bahnhöfen informieren konnten. 24 Stunden Nachrichtenoverkill pro Tag werden es aber wohl nicht mehr sein. Allerdings ist es nicht nur die generelle Ermüdung mit dem Nachrichtenmarathon. Nach den Zahlen des Kiewer Instituts ist das Vertrauen in die Medien generell zwischen Dezember 2022 und Dezember 2023 von 57 auf 29 Prozent gesunken.
Diese Tendenz hat mehrere Gründe. Das Vertrauen in die Institutionen ist nach einem Rekordhoch in den ersten Kriegsmonaten insgesamt zurückgegangen - eine Ausnahme sind lediglich die ukrainische Armee und die freiwilligen Helfer, die nach wie vor ein sehr hohes Vertrauen genießen. Die Einheitlichkeit im Fernsehen hat zudem eine Tendenz verstärkt, die sich bereits vor dem Krieg abzeichnete: die steigende Beliebtheit des Messengers Telegram und die sinkende Bedeutung von TV-Sendern. So informieren sich laut der jüngsten Umfrage der renommierten Rating Group 47 Prozent der Menschen in der Ukraine über Telegram, 29 Prozent über klassische Internetportale und nur 25 Prozent über den Fernsehmarathon.
Auf Telegram sind alle großen ukrainischen Medien vertreten und aktiv. Dort spielen sie allerdings nicht immer die erste Geige. Diese Rolle übernehmen dort oft anonyme Kanäle, die schnell und nicht zwingend geprüft Nachrichten verbreiten - eine Tendenz, die ukrainischen Medienwissenschaftlern nicht grundlos Sorge macht und die wiederum zum sinkenden Vertrauen in die Medien beiträgt. Es gibt aber auch eine positive Entwicklung. Die aktuelle Situation gibt trotz der schwierigen finanziellen Lage den seriösen unabhängigen Medien einen großen Aufschwung, die 2023 mit einer Reihe von prominenten Antikorruptionsrecherchen glänzten und die auch eigene Videoformate, etwa auf Youtube, erfolgreich weiterentwickelt haben. Auch sie nehmen dem Marathon die Zuschauer weg - und diese Tendenz wird weitergehen.
Quelle: ntv.de