Oleksij Melnyk im Interview "Vor einem Sieg gegen Russland hat man weiterhin Angst"
08.11.2023, 18:26 Uhr Artikel anhören
Ukrainische Nationalgardisten beim Training.
(Foto: AP)
Der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk sieht die zögerliche Hilfe aus dem Westen als Hauptgrund für das Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive. Ob es um Panzer geht, um Marschflugkörper oder um Kampfflugzeuge: "Es geht darum, die Ukraine nicht verlieren zu lassen. Vor einem Sieg gegen Russland hat man weiterhin Angst. Man reagiert, statt zu agieren." Grund zu Pessimismus sieht Melnyk dennoch nicht.
ntv.de: Herr Melnyk, wie bewerten Sie die bisherigen strategischen Ergebnisse der Militärkampagne von 2023 für die Ukraine?

Oleksij Melnyk ist Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Zwischen 2005 und 2008 war Melnyk Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums.
(Foto: Zentr Rasumkowa)
Oleksij Melnyk: Was mir zunächst wichtig erscheint: Wir können nur über provisorische Ergebnisse sprechen, weil das Jahr noch nicht zu Ende ist. Das ist keine Standardfloskel. Es ist halt nicht so, als ob sich die Front gerade gar nicht mehr bewegt. Generell können wir von einem gewissen Teilerfolg der Ukraine sprechen. Ich meine hier weniger die sommerliche Offensivoperation: Es ist offensichtlich, dass die gewünschten Aufgaben dazu leider nicht mal teilweise erfüllt worden sind. Wir haben aber auch keine besonderen Offensivaktionen Russlands gesehen. Die Ukraine hat es abgesehen von der Offensivoperation im Süden geschafft, alle anderen Frontabschnitte grundsätzlich zu halten - und hatte bis Ende Oktober klar die strategische Initiative.
Was ist bei der Sommeroffensive falsch gelaufen? Einige Experten wie Mykola Beleskow vom Nationalen Institut für strategische Studien in Kiew hätten es mit dem Umfang der gelieferten Waffen lieber gesehen, wenn die Ukraine in diesem Jahr ähnlich wie 2022 in der aktiven Verteidigung geblieben wäre. Teilen Sie diese Meinung?
Nun, wir können jetzt relativ sicher sagen, dass der Start der Operation mehrfach nach hinten verlegt wurde. Und ich denke schon, dass die unzureichende Versorgung der ukrainischen Armee dafür ausschlaggebend war. Munition und Waffen kamen viel zu langsam an. Auf der anderen Hand gab es aber den saisonalen Faktor: Jeder verlorene Sommermonat lässt weniger Zeit für aktive Offensivhandlungen übrig. Ob es richtig war, die Operation zu beginnen, obwohl man wusste, dass man bei Weitem nicht ideal vorbereitet ist, ist eine extrem schwierige Frage. Wir haben ja gesehen, wie effektiv Russland die Zeit genutzt hat, um seine Verteidigungslinien vorzubereiten. Hätten sie noch mehr Zeit, hätten sie diese sicher ebenfalls nicht für Nichtstun verschwendet. Außerdem: Das Territorium der Ukraine immer und immer wieder mit der aktiven Verteidigung zu befreien, geht ohnehin nicht ewig. Wenn es diese Vorstellung unter den obersten Kommandeuren überhaupt gab, dann war sie, abgesehen von offensichtlichen politischen Faktoren, aus gutem Grund sehr unbeliebt.
Kann man sagen, dass die durch zögerliche Waffenlieferungen verlorene Zeit, die Russland zum Aufbau der Verteidigungslinien genutzt hat, der Hauptfaktor der gescheiterten Offensive ist?
Sicher. Erinnern wir uns an die F-16-Debatte: Mehr oder weniger die gleichen Leute, die monatelang erklärt haben, warum es nicht an der Zeit ist, der Ukraine F-16 zu übergeben, haben sich dann quasi gewundert, dass es schwierig ist, eine solche Operation ohne Luftüberlegenheit durchzuführen. Panzer, Marschflugkörper, was auch immer - es läuft immer nach dem gleichen Prinzip. Das Hauptproblem bleibt, dass sich die prinzipiellen Herangehensweisen nie grundsätzlich verändert haben. Es geht darum, die Ukraine nicht verlieren zu lassen. Vor einem Sieg gegen Russland hat man weiterhin Angst. Man reagiert, statt zu agieren.
Wie werden sich denn die ukrainischen Streitkräfte in der nächsten Zeit auf dem Schlachtfeld strategisch verhalten?
Zunächst einmal geht es natürlich um die aktive Verteidigung, um Voraussetzungen für Offensivoperationen im nächsten Jahr zu schaffen. Es geht um die Erschöpfung des Gegners, die Zerstörung der logistischen Wege, die Ausschaltung der russischen Flugabwehr und Angriffe auf das tiefe russische Hinterland, beispielsweise auf große Konzentrationen russischer Flugzeuge. Dann sehen wir weiter.
Der britische "Economist" hat neulich drei Texte veröffentlicht: einen Essay des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, einen Beitrag mit Ausschnitten aus einem Interview mit ihm sowie einen nahezu wissenschaftlichen Text von Saluschnyj über den modernen Stellungskrieg. Saluschnyj warnt in diesen Beiträgen vor einem für die Ukraine gefährlichen langen Abnutzungskrieg und spricht konkret fünf Bereiche an, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Wie bewerten Sie diese Veröffentlichungen?
Ich habe darin sehr viel Interessantes für mich gefunden. Einige Vorschläge für den Kampf gegen Drohnen oder in Sachen elektronische Kampfführung halte ich für ganz spannend. Ob aber nur diese fünf Bereiche helfen werden, den Krieg entscheidend zu wenden, da bin ich mir nicht sicher. Denn es sind Bedürfnisse für jetzt und heute. In drei Monaten kann es bereits deutlich anders aussehen - übrigens nicht zwingend negativ für uns. Die Natur der bewaffneten Konflikte hat sich nicht verändert, seit massive Armeen eingesetzt werden. Keine Waffenart allein wird über Jahrhunderte eine Überlegenheit schaffen. Wo es Aktion gibt, gibt es auch Reaktion.
Um konkreter zu werden: Die türkischen Bayraktar-Drohnen etwa haben zu Beginn des Krieges eine große Rolle gespielt, doch die Russen haben schnell gelernt, wie man dagegen vorgeht. Bei den Drohnen ist auf beiden Seiten jetzt die Schlüsselfrage, was sich schneller entwickeln wird: die Drohnen oder Technologien zur Drohnenbekämpfung. Wer hier schneller und effektiver sein wird, ist eine der wichtigsten Fragen dieses Krieges. Denn Saluschnyj hat natürlich recht: Bei der aktuellen Ausstattung mit Drohnen ist es ganz schwierig, Offensiven mit größeren Kolonnen durchzuführen, denn beide Seiten sehen alles. Aus Panzern als Offensivmittel werden Ziele für den Gegner. Doch sowohl Drohnen als auch größere Offensiven werden sicher Teil der Kriegsführung bleiben. Die von beiden Seiten angewendete Taktik der Angriffe mit kleinen Sturmgruppen ist nicht die Taktik, mit der Kriege gewonnen werden. Wir müssen hier schnell und innovativ sein. Dann ist vieles möglich.
Die Ukrainer versuchen seit Wochen und Monaten, dank amphibischer Landungsversuche ihre Präsenz auf dem russisch kontrollierten östlichen Ufer des Dnipro-Flusses im Bezirk Cherson zu verstärken. Offenbar mit Erfolg. Die Russen greifen zuletzt massiv in Richtung der Stadt Awdijiwka im östlichen Bezirk Donezk an. Wie bedeutend sind all diese Aktionen?
Die Geschichte mit dem östlichen Dnipro-Ufer ist noch schwer einzuschätzen. Bei dem, was wir sehen, kann man von der Vorbereitung von Möglichkeiten sprechen, um den Feind zu überraschen. Das ist die klassische Kriegsführung aus dem Lehrbuch: Irreführung des Feindes und Schläge dort, wo man eigentlich Verteidigung imitiert. Stand jetzt würde ich überhaupt keine Bewertung abgeben, ob das alles nur ein Ablenkungsmanöver ist oder ob es darum geht, ein Aufmarschgebiet für eine unerwartete Offensive zu schaffen.
Was Awdijiwka anbetrifft, haben die Russen seit der Annahme von Bachmut versucht, eine Gegend zu finden, wo auch sie angreifen können. Nun sind sie davon überzeugt, dass sie dort vorankommen können. Ich schaue zurückhaltend auf deren Perspektiven.
Mit welchem Gefühl blicken Sie auf das Jahr 2024 und dessen Militärkampagne?
Ich persönlich verspüre verhaltenen Optimismus. Wir machen hier in der Ukraine stets große Emotionswellen durch. Das war auch lange vor dem großen Krieg so, wenn auch in anderem Maßstab. Das Gefühl von Enttäuschung und Katastrophe wechselt sich stets und blitzschnell mit Zuversicht und Optimismus ab. Wir wissen, dass wir trotz der schwierigen Lage nicht überdramatisieren sollten.
Mit Oleksij Melnyk sprach Denis Trubetskoy
Quelle: ntv.de