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Geiseln befreien oder aufgeben? Warum Netanjahu in der Klemme steckt

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Die Hamas dokumentierte ihre Entführungen mit Fotos und Videos. ntv.de zeigt die Geiseln verpixelt.

Die Hamas dokumentierte ihre Entführungen mit Fotos und Videos. ntv.de zeigt die Geiseln verpixelt.

Etwa 150 Israelis sollen sich in der Hand der Hamas befinden. Bei einer Bodenoffensive hätten sie kaum Chancen zu überleben. Gibt es für Israel einen Weg aus dem Dilemma?

Blutend im Kofferraum kauernd, auf Pickup-Ladeflächen oder eingekeilt zwischen Terroristen auf einem Motorrad entführt - in etlichen Videos hat die Hamas am Samstag dokumentiert, wie sie israelische Zivilisten in ihre Gewalt brachte. Für die Angehörigen der geschätzt 150 Entführungsopfer müssen die Bilder, die im Internet kursieren, unerträglich sein. Tortur einerseits, zugleich womöglich letzter Hoffnungsschimmer - ein Hinweis darauf, dass ihre Lieben noch am Leben sein könnten. Denn vor allem lebend erfüllen sie für die palästinensischen Terroristen eine wichtige Funktion.

Die Geiseln sind ihr wertvollstes Faustpfand gegen die Verteidigungsschläge Israels. Eine Bodenoffensive der Streitkräfte in Gaza würden die Gefangenen kaum überleben, schätzt der Sicherheitsexperte Carlo Masala auf ntv.de. Für die Hamas ermöglichen sie eine maximale Drohkulisse: Für jeden israelischen Angriff mit zivilen Opfern will die Hamas eine Geisel hinrichten, live übertragen ins Internet - so lautet die Ankündigung der Terrorgruppe. Die Entführer zeigen sich bereit, den Effekt noch zu steigern, auf den sie schon mit den Gräuelfilmen vom Samstag gezielt haben: Durch ihre Macht über das Leben der Gefangenen gleichsam ein ganzes Volk unter Folter zu setzen.

Kann Israel mit dem Erzfeind dealen?

Während im Netz bereits Warnungen auch an jüdische Eltern in Deutschland kursieren, ihre Kinder vor möglichen Gräuel-Videos auf gängigen Plattformen zu schützen, stellen in Israel die Hamas-Entführungen Staat und Gesellschaft nun vor fast unlösbare Fragen: Tut man alles, was möglich ist, um das Leben der 150 Geiseln zu retten? Auch, wenn das einen Gefangenenaustausch, einen Deal erfordern würde mit dem Feind, der einem ganzen Land diesen Schmerz angetan hat? Oder muss Israel nach den Gräueln vom Samstag nun vor allem massiv zurückschlagen und sich unerbittlich zeigen - auch gegen sich selbst? Die Hamas mit der Bodenoffensive auslöschen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste?

"Im Judentum gibt es ein Gebot, welches verlangt, Geiseln aus den eigenen Reihen zu befreien. Das entspräche also einer Tradition aus der jüdischen Religion", sagt die israelische Bildungsexpertin Anita Haviv ntv.de. Auch gebe es eine Art "ungeschriebenen Vertrag" zwischen der israelischen Armee und den Angehörigen der Soldaten: die Versicherung, "dass die Armee immer das maximal Mögliche tun wird, um im Notfall die Soldaten zu befreien". In Israel herrscht Wehrpflicht für Männer und Frauen und die kann auch konkrete Einsätze in Konflikten mit sich bringen.

Was es bedeuten kann, wenn der "ungeschriebene Vertrag" das maximal Mögliche zur Befreiung vorsieht: "Im Gaza-Krieg 2014 haben israelische Soldaten unter Beschuss Leichen eingesammelt", sagt Haviv. "Es sind Soldaten dabei gestorben, als sie ihre toten Kameraden geborgen haben."

Hinzu kommt laut Haviv: "Wir sind eine irrsinnig kleine, intime Gesellschaft, sehr familienbezogen im weiteren Sinne. Die ganze Gesellschaft wird also zur Familie" und sie leidet mit, wenn nun die direkten Angehörigen der Geiseln vor die Presse treten und um Hilfe für die Gefangenen flehen.

"Geiseln in Gaza ist Hölle auf Erden"

"Ich will nicht über meine Gefühle sprechen! Ich will über die Geiseln sprechen und darüber, wie man sie befreien kann", schreibt die jüdische Autorin Mirna Funk auf Instagram. Der dpa sagte sie: "Die Gefühle aller Juden drehen sich aktuell ausschließlich um die Opfer, die Verletzten, die Angehörigen dieser und die Geiseln." Jüdische Geiseln in Gaza - "das ist Hölle auf Erden".

Aus der Gefangenschaft der Hamas hat Israel im Jahr 2011 Gilad Schalit befreit, einen jungen Soldaten, der fünf Jahre zuvor, damals 19-jährig, durch ein Terrorkommando aus einem Panzer entführt worden war. Seine zwei Kameraden überlebten den Anschlag nicht. Die Regierung zeigte sich lange Zeit hart und konsequent, wollte sich - gemäß einer alten Doktrin - nicht erpressbar machen. Doch die Anteilnahme an Schalits Schicksal wurde auch durch geschickte Medienpräsenz seiner Familie so groß, brachte so gewaltige Demonstrationen auf die Straße, dass schließlich ein Deal geschlossen wurde: 1027 zu 1. Um einen einzigen israelischen Soldaten aus Feindeshand zu befreien, entließ Israel 1027 inhaftierte Palästinenser in die Freiheit. Einer von ihnen gehört heute zu den führenden Köpfen der Hamas.

Seit Samstag wissen neun Millionen Israelis 150 Gilad Schalits in den Händen des Erzfeindes. Mit jeder Stunde, in der die angekündigte Offensive näher rückt, schwinden die Chancen der Geiseln, ihr Martyrium zu überstehen. Israels rechts-religiöser Finanzminister Bezalel Smotrich forderte bereits, "die Hamas brutal zu schlagen und die Frage der Gefangenen nicht zu berücksichtigen". Doch noch sind keine Soldaten in Gaza einmarschiert, noch gestern berichtete die israelische Zeitung "Haaretz" über Versuche aus Katar und Ägypten, zwischen Israel und der Hamas einen Deal über den Austausch von Gefangenen zu erwirken.

Wie mühsam und zäh sich solche Verhandlungen gestalten könnten, zeigt Shalids Beispiel, der erst nach fünf Jahren freikam. Und die Hamas würde in solchen Runden sicherlich auf Zeit spielen. Denn je länger Israel zugunsten einer Überlebenschance für die Geiseln mit der Bodenoffensive wartet, desto schneller verblasst bei den internationalen Partnern der Eindruck der unfassbaren Grausamkeit des Terrorangriffs. Das bis ins Mark erschütterte Land müsste befürchten, die Unterstützung für einen massiven Gegenschlag zu verlieren.

Die "Haaretz" sieht für einen Deal zwischen Israel und der Hamas auch Olaf Scholz in einer möglichen Vermittlerrolle. Der deutsche Kanzler empfängt - lange geplant - am Donnerstag den Emir von Katar, Tamim bin Hamad al Thani. Scholz' Sprecher ging am Montag davon aus, dass die Eskalation in Nahost dabei eine Rolle spielen werde. Die "Haaretz" wird konkreter: Scholz habe Israels Premier Benjamin Netanjahu am Wochenende Vermittlungshilfe angeboten, um die Geiseln zu befreien, behauptet die Zeitung und beruft sich auf arabische Medien. Nun befände sich dieser Punkt auf der Agenda des deutsch-katarischen Treffens.

Netanjahu hat Hilfe bitter nötig

Scholz selbst hielt das Thema Vermittlung im Presse-Statement am Wochenende vage. Er kündigte an, mit Ägyptens Staatschef Al-Sisi zu sprechen, der sich in der schwierigen Situation um Vermittlung und Deeskalation bemühe. "Wir werden Ägypten dabei gern unterstützen", so Scholz. Zum Inhalt seines Telefonats mit Netanjahu teilte ein Regierungssprecher auf Anfrage mit, über Details vertraulicher Gespräche werde grundsätzlich nicht berichtet.

Wie Netanjahu auf das mögliche Angebot aus Berlin reagiert habe, ist der Zeitung nach eigener Aussage nicht bekannt. Hilfe indes hätte der Premier bitter nötig: Von vielen Experten kommt harsche Kritik daran, dass ein großer Teil der israelischen Streitkräfte von der Grenze zu Gaza ins Westjordanland verlegt worden war. Die aggressive Siedlerpolitik der rechten Regierung sorgt dort schon länger für Spannungen. Als von Gaza aus die Terroristen an etlichen Stellen mit Bulldozern den Grenzzaun nach Israel niederwalzten, war niemand da, um sie aufzuhalten.

Seit Netanjahus Worten vom Wochenende, das Land stehe vor einem langen und zermürbenden Krieg, der "uns durch einen mörderischen Angriff der Hamas aufgezwungen" wurde, hat der Premier die Öffentlichkeit so gut wie möglich gemieden. "Die Regierung redet nicht mit den Bürgermeistern aus dem Süden. Sie redet nicht mit den Familien der Opfer", sagt Haviv. "Viele Familien starten eigene Initiativen, suchen im Internet Kontakt zu Botschaften", Kontakt zu ausländischen Medien. "Unsere Regierung ist einfach untergetaucht."

Das neueste Buch der Bildungsexpertin Anita Haviv "In Europa nichts Neues" beleuchtet europäischen Antisemitismus aus israelischer Sicht.

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(Foto: privat)

Eine bereits jetzt vorherrschende Stimmung bezüglich von Verhandlungen mit den Geiselnehmern sieht Haviv bislang nicht. "Momentan sind alle dermaßen unter Schockstarre, dass diese Diskussion noch nicht begonnen hat. Gerade sind wir eher darauf konzentriert, Essen und Unterhosen für die Soldaten zu sammeln. Alles, absolut alles macht hier gerade die Zivilgesellschaft."

Am heutigen Nachmittag kam eine Mitteilung aus der Regierung: Netanjahu hat sich mit der Opposition auf die Bildung einer Notstandsregierung geeinigt. Diese breite Koalition braucht er dringend, um in den kommenden Tagen weitreichende militärische und politische Entscheidungen durchsetzen und vertreten zu können. Auch solche, mit denen er womöglich noch mehr Wut oder Enttäuschung aus der Bevölkerung auf sich zieht.

Für den Regierungschef könnte es ums politische Überleben gehen in einer Situation, in der er am Ende des Tages nur auf die eine oder die andere Art falsch entscheiden kann: Gegen den Ausdruck von militärischer Härte und Unerbittlichkeit gegenüber dem Feind oder gegen die Chance, Leben von Landsleuten zu retten. Viele internationale Beobachter rechnen mit dem baldigen Start der Offensive, damit wäre die Frage dann wohl entschieden. Doch der Premier, der vor zwölf Jahren 1027 Häftlinge freiließ im Gegenzug für nur einen Israeli, hieß Benjamin Netanjahu.

Quelle: ntv.de

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