Anne Brorhilker im Interview"Da hat die Finanzlobby ganze Arbeit geleistet"
Hubertus Volmer
Die frühere Staatsanwältin Anne Brorhilker kritisiert, dass sich der Staat jedes Jahr viele Milliarden abknöpfen lässt - Steuergeld, das an anderer Stelle fehlt. "Warum zum Teufel sind die Ermittlungsbehörden nicht besser aufgestellt?", fragt sie mit Blick auf die Mittel, die der Staat aufwendet, um Betrug wie bei Cum-Ex zu bekämpfen.
Als Staatsanwältin hat Anne Brorhilker den milliardenschweren Cum-Ex-Betrug aufgedeckt. Sie weiß, mit welchen Schwierigkeiten man zu kämpfen hat, wenn man gegen die Finanzindustrie ermittelt. Den Schaden durch Steuerhinterziehung schätzt sie auf 100 Milliarden Euro pro Jahr - Steuergeld, das an anderer Stelle fehlt. "Da ist derzeit viel Luft nach oben, gerade im Vergleich zum entschlossenen Vorgehen gegen Sozialhilfebetrug", sagt Brorhilker.
ntv.de: Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Cum/Ex, Milliarden und Moral". Ist das nicht ein Widerspruch? Oder würden Sie nach allem, was Sie erlebt haben, sagen, dass es Moral in der Bankenbranche gibt?
Anne Brorhilker: Die Bankenbranche ist groß, nicht alle Banker haben bei Cum-Ex mitgemacht. Und natürlich gibt es Menschen in der Finanzindustrie, die Werte und Wertmaßstäbe haben. Aber insgesamt ist diese Branche schon sehr darauf getrimmt, Profite zu machen. Wenn der Staat nicht genau hinguckt, ist es verführerisch, leicht viel Geld zu verdienen. Das Dumme war nur, dass die Profite bei Cum-Ex und Cum-Cum Steuergelder sind.
Es gibt ein paar Stellen in Ihrem Buch, da wird man stutzig, auch nach all den Jahren. Zum Beispiel verweisen Sie auf ein Urteil des Hessischen Finanzgerichts aus dem Jahr 2016, demzufolge jemand, der eine Steuererstattung erlangen will, nachweisen muss, dass die Steuer zuvor gezahlt wurde. Wie kann es sein, dass so eine Frage jemals streitig war? Das sollte doch selbstverständlich sein.
Zumal das ausdrücklich so im Gesetz steht: Paragraf 90 Abgabenordnung regelt die Mitwirkungspflicht von Steuerpflichtigen, insbesondere bei Auslandssachverhalten. Die Beteiligten müssen von sich aus den Sachverhalt aufklären und dem Finanzamt die erforderlichen Beweismittel zur Verfügung stellen. Häufig bemühen die Akteure aber viele Ausreden, warum sie die Informationen auch nicht hätten, oder sie antworten ausweichend auf Fragen des Finanzamts. Und die Mitwirkungspflichten enden sowieso, wenn strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden. Aus diesen Gründen ist es in der Rechtspraxis alles andere als leicht, komplexe Sachverhalte zu ermitteln, besonders wenn die Beweismittel im Ausland liegen, die Akteure die Taten professionell verschleiern und eine Heerschaar von Anwälten beschäftigen, um juristische Gegenwehr zu leisten.
Wenn der Staat dann nicht genügend Ressourcen hat, wird es umso schwieriger, Regeln gleichmäßig durchzusetzen. Diese Effekte haben wir bei den Cum-Ex-Ermittlungen sehr deutlich feststellen müssen: Die staatlichen Strukturen waren so schwach, dass sie dieser sehr gut aufgestellten Branche wenig entgegenzusetzen hatten.
Ist Cum-Ex überhaupt mit klassischer Steuerhinterziehung vergleichbar? Denn wer wie bei Cum-Ex Steuererstattungen erschleicht, die er nie bezahlt hat, vermeidet ja nicht die Zahlung von Steuern - er bestiehlt den Staat.
Steuerhinterziehung ist ein juristischer Begriff, ein Straftatbestand, der in Paragraf 370 Abgabenordnung geregelt ist. Strafbarkeit ist gegeben, wenn ein Täuschungselement vorliegt, wenn man das Finanzamt also anlügt und dadurch ein Schaden entsteht. Das ist unabhängig davon, ob man sich Steuern erstatten lässt, die nicht gezahlt wurden, wie bei Cum-Ex. Oder ob man, wie bei Cum-Cum, Steuern vermeidet, die man eigentlich zahlen müsste.
Die Strafbarkeit besteht nur bei Täuschung der Steuerbehörden?
Ja, wenn die Beteiligten bei Cum-Ex die Karten auf den Tisch gelegt hätten, dann hätte keine Täuschung vorgelegen und damit auch keine Strafbarkeit. Dann wäre es einfach eine Auseinandersetzung vor den Finanzgerichten darüber gewesen, ob man ein Recht darauf hat, sich diese Steuern erstatten zu lassen, die gar nicht gezahlt worden sind.
Wie hoch ist der jährliche Schaden durch Steuerhinterziehung in Deutschland?
Genau weiß man das nicht, bekannt sind nur die Zahlen aus dem sogenannten Hellfeld, also die entdeckten Fälle. Aber bei Wirtschaftskriminalität geht man davon aus, dass das Dunkelfeld sehr groß ist. Das gilt insbesondere für Steuerhinterziehung. Den Gesamtschaden kann man also nur schätzen. Im Bereich der Steuerhinterziehung belaufen sich diese Schätzungen regelmäßig auf um die 100 Milliarden pro Jahr.
Wie viel davon könnte sich der Staat realistischerweise zurückholen?
Nach dem Gesetz muss grundsätzlich alles zurückgeholt werden. Eine andere Frage ist, wie viele Ressourcen der Staat einsetzt, um diese illegal erlangten Steuergelder zurückzufordern. Da ist derzeit viel Luft nach oben, gerade im Vergleich zum entschlossenen Vorgehen gegen Sozialhilfebetrug. Bei Cum-Cum wurde beispielsweise nach den bisher veröffentlichten Zahlen nur ein Prozent des geschätzten Gesamtschadens rechtskräftig zurückgefordert. Das ist ein ziemlich mickriges Ergebnis. Da wäre viel mehr möglich.
Und bei Cum-Ex?
Nach bisherigen Zahlen waren es 3,1 Milliarden Euro. Das ist nur ein Drittel des geschätzten Schadens von 10 Milliarden Euro, und diese Schätzung halte ich noch für zu niedrig. Auch hier ist noch viel zu tun. Ich finde, wir Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, dass der Staat sich darum kümmert, dass die von uns eingezahlten Steuergelder nicht in den Taschen von Kriminellen landen.
Einer Ihrer Kronzeugen, Kai-Uwe Steck, beschrieb seine Vernehmungen als eine Art Befreiung, wenn auch eine quälende - das war 2018 im Interview mit Correctiv, da hat er noch eine Maske getragen. Damals sagte er, ihm sei klar gewesen, dass er unter sieben Jahren Haft nicht davonkommen werde. Im Januar 2025, als Angeklagter in seinem eigenen Verfahren, klang er ganz anders. Wie erklären Sie sich diese Kehrtwende?
Grundsätzlich kommen solche Strategiewechsel bei Angeklagten nicht selten vor. Meist ist das verbunden mit einem Wechsel des Rechtsanwalts. So war es auch vorher schon bei Herrn Steck, denn er hatte sich zwischenzeitlich in der Weise öffentlich geäußert, dass er sich bewusst einen neuen Anwalt genommen habe, um aus der Cum-Ex-Phalanx um Hanno Berger auszutreten und mit den Behörden zu kooperieren. Als er dann später selbst angeklagt wurde, hat er die Strategie erneut geändert - so würde ich das erklären. Als Angeklagter hat er sich dann dargestellt als jemand, dem übel mitgespielt wurde, insbesondere hat er sich dann auch über den Umgang mit ihm im Ermittlungsverfahren beklagt. Das darf er auch, Angeklagte haben sehr weitreichende Rechte. Anders als Zeugen dürfen sie beispielsweise lügen. Man muss ihnen aber nicht alles glauben. Auch das Gericht hat ihm nicht alles geglaubt.
Steck ist zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Für Sie ein nachvollziehbares Urteil?
Es ist eine sehr milde Strafe, insofern haben Teile seiner Opfer-Erzählung beim Gericht möglicherweise verfangen. Das wundert mich auch gar nicht. Ich war 22 Jahre Staatsanwältin und lange im Bereich Wirtschaftskriminalität tätig. In dieser Zeit habe ich auch erst lernen müssen, wie manipulativ bestimmte Tätertypen sein können. Gerade Betrüger sind gut darin, beim Gegenüber bestimmte Knöpfe so zu drücken, dass diese gar nicht merken, wie sie gerade manipuliert werden. Für Betrüger ist das gewissermaßen eine Kernkompetenz. Nicht nur bei Cum-Ex, das ist auch in völlig anderen Milieus so.
In Ihrem Buch ist Kai-Uwe Steck "Dr. S.". Auch andere Personen tauchen nur als Kürzel auf. Selbst der frühere Chef der Hamburger Warburg-Bank heißt bei Ihnen "Christian O.", obwohl jeder weiß, wer hier gemeint ist. Warum haben Sie das gemacht?
Das war Ergebnis einer rechtlichen Beratung. Der Verlag hat sich für ein vorsichtiges Vorgehen entschieden.
Wenn wir über Christian Olearius sprechen, ist eine Frage zu Olaf Scholz naheliegend. Glauben Sie, dass Scholz sich bei seinen Gesprächen mit ihm etwas hat zuschulden kommen lassen?
Ich muss hier zunächst auf eine Sache hinweisen: Ich darf nicht offenbaren, was ich aufgrund meiner Ermittlungen als Staatsanwältin weiß - das Dienstgeheimnis gilt auch nach dem Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis. Und generell muss man sagen: Was die beiden hinter verschlossenen Türen besprochen haben, wissen nur die beiden, und zwei der drei Treffen fanden ja ohne Zeugen statt. Das kann man im Nachhinein nur über Indizien rekonstruieren.
Scholz selbst hat immer wieder gesagt, er könne sich nicht erinnern.
Das ist eine Antwort, die Staatsanwaltschaften häufig hören. Es ist eine juristisch kluge Antwort, eine taktisch kluge Antwort, weil sie schwer zu widerlegen ist. Nur ist Herr Scholz auch Politiker und hat ein hohes Amt bekleidet. Allein der Umstand, dass ihm seine Erinnerungslücken im Grunde kein Mensch geglaubt hat, zeigt, dass er seiner Glaubwürdigkeit damit geschadet hat. Politisch war es deshalb vielleicht nicht die klügste Antwort.
Sie beschreiben sehr anschaulich, wie Staatsanwaltschaften im Kampf gegen Wirtschaftskriminelle systematisch benachteiligt sind: zu wenig Staatsanwälte für zu viele Ermittlungsverfahren, zu wenige Ermittler in den Behörden, eine zu schlechte Ausstattung, zu wenige oder mangelhafte Möglichkeiten der Kooperation von Behörden und Bundesländern, dazu eine Behördenkultur, in der Eigeninitiative oft als Problem angesehen wird - aber eben auch oft ein zu geringes politisches Interesse an Aufklärung, vielleicht sogar ein politisches Interesse an der Blockade von Aufklärung. Ist das der Grund für alle anderen Probleme? Ist die schlechte personelle und technische Ausstattung der Ermittlungsbehörden politisch gewollt?
Ich glaube, das geht Hand in Hand. Mittlerweile kann man schon die Frage stellen: Warum zum Teufel sind die Ermittlungsbehörden nicht besser aufgestellt? Warum wird da nicht mehr investiert?
Ja, warum?
Die Strukturen sind ursprünglich sicher nicht bewusst so organisiert worden, um Steuerhinterzieher zu schützen, sondern haben sich in unserem föderalistischen System über Jahrzehnte so entwickelt. Ich habe den Eindruck, dass Verwaltungen generell wenig agil und offen für Änderungen sind. Dass vieles einfacher wäre, wenn es in allen Bundesländern eine einheitliche IT-Infrastruktur gäbe, ist aber meinem Eindruck nach schon stärker ins Bewusstsein der Politik gerückt. Man kann sich allerdings trotzdem die Frage stellen, ob der Staat genug für eine leistungsfähige Verwaltung tut.
Sie sagten es bereits, im Vergleich zum Sozialhilfebetrug setzt der Staat nur geringe Ressourcen ein, um Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
Ja, so habe ich das in der Praxis erlebt. Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Das soll nicht heißen, dass wir nicht gegen Sozialhilfebetrug oder andere Kriminalitätsphänomene vorgehen sollen. Der Staat soll vielmehr in gleicher Weise gegen jegliche Kriminalität vorgehen. Ich bin der Meinung, dass das Problem der Steuerhinterziehung sehr viel größer ist als der Fokus des Staates darauf.
Warum ist das so?
Da hat die Finanzlobby offenbar ganze Arbeit geleistet, so jedenfalls erkläre ich mir das. Man darf nicht vergessen: Die Finanzindustrie hat im Bereich Cum-Ex eng mit zahlreichen Juristen zusammengearbeitet, um dem Ganzen einen legalen Anstrich zu verleihen. Juristen haben Auftragsgutachten geschrieben und haben systematisch zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften platziert, um sich die gewünschte Rechtsmeinung herbeizuschreiben. Denn was machen Mitarbeitende bei Finanzämtern, Staatsanwaltschaften oder Gerichten, wenn sie mit einem neuen Thema konfrontiert werden? Sie schauen in Fachaufsätze. So habe ich es zu Beginn meiner Ermittlungen 2013 und 2014 auch gemacht. Dort war viel von "Marktineffizienzen" rund um den Dividendenstichtag die Rede, von "Hebelungseffekten" und ähnlichem Blödsinn. Alles nur, um zu verschleiern, worum es dabei wirklich ging.
Klingt kompliziert.
Das soll es auch. Vermeintliche Komplexität ist eine Strategie, um Ermittlungen im Keim zu ersticken. Den Ermittlern, aber auch den Politikern und der Öffentlichkeit wurde Cum-Ex als mega kompliziert dargestellt, um Angst vor Überforderung zu wecken. Gleichzeitig wurde es verharmlost: So schlimm ist das gar nicht, da geht es nur um ein paar schwarze Schafe. Beides sollte das Thema auf der Prioritätenliste nach ganz unten drücken. Das Gleiche hören wir jetzt übrigens wieder zum Thema Cum-Cum. Solche Erzählungen sind völlig falsch: Cum-Ex und Cum-Cum sind ein riesiges Problem. Das machen nicht nur ein paar schwarze Schafe, da geht es um eine ganze Industrie. Verdammt viele Menschen waren und sind damit beschäftigt, Strategien zu unser aller Nachteil umzusetzen. Selbst an der Bundesfinanzakademie, an der auch Richter, Staatsanwälte und Steuerfahnder ausgebildet werden, haben Akteure aus dieser Branche Vorträge gehalten. Zugleich ist massiv in den politischen Raum hinein lobbyiert worden.
Cum-Ex und Cum-Cum werden noch immer betrieben?
Davon ist auszugehen.
Wer trägt in der Cum-Ex-Saga die größere Verantwortung: gierige Banker oder ein System, das es ihnen zu leicht macht?
Beides sind Faktoren, die eine Rolle spielen. Es ist die Schwäche des Staates und die Stärke der Finanzbranche. Das fatale Ungleichgewicht zwischen diesen Seiten ist das Kernproblem. Wenn man nur eine dieser Komponenten ändern würde, wären wir schon weiter. Aber natürlich sollte man bei beiden Komponenten ansetzen. Der Staat müsste kritischer gegenüber den Narrativen sein, die von der Finanzlobby kommen. Man sollte aus Fehlern lernen, zum Beispiel erkennen, dass wir uns lange Zeit haben einlullen lassen. Das sollte uns kein zweites Mal passieren. Heutzutage wissen wir viel mehr über die Cum-Ex-Industrie und wie sie vorgegangen ist, um auf unsere Kosten Milliarden zu verdienen, und auch, warum sie lange Zeit nicht entdeckt wurde. Ein Lösungsansatz wäre, eine zentrale Stelle für die Bekämpfung von Steuerhinterziehung auf Bundesebene einzurichten. Für international organisierte Geldwäsche gibt es das, da ist das Bundeskriminalamt zuständig. Aber man muss Steuerhinterziehung und Geldwäsche zusammendenken, denn beides hängt in der Praxis ganz eng zusammen. Eine zentrale Stelle auf Bundesebene könnte viel schlagkräftiger agieren als die vielen über ganz Deutschland verteilten Stellen, die sich wenig untereinander austauschen und primär für lokale Kriminalität und nicht für den internationalen Bereich zuständig sind. Dann hätten wir Steuerzahler und Steuerzahlerinnen vielleicht eine echte Perspektive darauf, dass künftig nicht mehr Milliarden an Steuergeldern in kriminellen Kanälen versickern.
Mit Anne Brorhilker sprach Hubertus Volmer
