Fachkräfte aus Südamerika? Was brasilianische Pflegekräfte an Deutschland stört
06.06.2023, 08:06 Uhr Artikel anhören
Hubertus Heil in einer Universität in Brasilia, in der man einen vierjährigen Studiengang zur Pflegekraft mit Bachelor-Abschluss absolvieren kann.
(Foto: dpa)
Arbeitsminister Heil und Außenministerin Baerbock wollen in Brasilien Fachkräfte anwerben. Man wolle dabei sehr "sensibel" vorgehen und nicht zu viele Pflegekräfte abwerben. Die Gefahr ist eher eine andere: dass kaum einer nach Deutschland will.
"Kluge Köpfe und helfende Hände", das ist das Mantra von Hubertus Heil. Deutschland brauche jeden, der gut qualifiziert ist. Auch in Brasilien betont der Arbeitsminister diesen Ansatz. Ihm sei es "wichtig, dass beim Thema Fachkräfteeinwanderung alle profitieren", sagte Heil bei einem Treffen mit seinem brasilianischen Amtskollegen Luiz Marinho. Beide unterzeichneten eine Absichtserklärung für "faire Einwanderung".
Es geht dabei vor allem um Pflegekräfte. Die Gefahr ist allerdings eher nicht, dass Deutschland Brasilien zu viele abwirbt. Wenn man sich unter Pflegekräften in Brasilien umhört, wird deutlich, dass etwas anderes wahrscheinlicher ist: dass nur wenige nach Deutschland wollen.
Vanessa Guimarães ist 28 Jahre alt und lebt in Juazeiro im Bundesstaat Bahia, im ärmeren Nordosten Brasiliens. "Für eine Zwölf-Stunden-Schicht auf einer Kinderstation während Corona habe ich umgerechnet 20 Euro bekommen." Zu wenig. Deshalb wird sie im Oktober zum Arbeiten nach Deutschland gehen.
Der erste Eindruck ist gut
Die höheren Löhne sind das Hauptargument dafür, auszuwandern. In Brasilien verdienen Pflegekräfte im Schnitt 600 Euro. In Deutschland etwa viermal so viel. Aber es gibt noch mehr Gründe. "Ich hatte Angebote aus Italien und Kanada", erzählt Vanessa. Aber in Kanada sei zum Beispiel der Prozess der Anerkennung etwas länger und viel schwieriger als in Deutschland. Außerdem engagierten sich die deutschen Arbeitgeber. Ihr werde zum Beispiel der Deutschkurs in Brasilien bezahlt. Deshalb nun also Deutschland.
Der erste Eindruck ist gut: Höhere Löhne und schnellere Verfahren sprechen für Deutschland als Auswanderungsland. Vanessa wird Teil einer kleinen, aber wachsenden Gruppe von brasilianischen Pflegekräften in Deutschland sein. Derzeit sind es rund 2300, so die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Es gibt deutsch-brasilianische Vermittlungs-Agenturen für Pflegekräfte wie Vanessa, zum Beispiel Nursewelt. Vergleichsweise sind das aber immer noch recht wenige. Zum Vergleich: Etwa 180.000 zusätzliche Pflegekräfte werden in den nächsten Jahren in Deutschland benötigt, so aktuelle Zahlen.
"Du arbeitest als billige Arbeitskraft"
Warum kommen so wenige brasilianische Pflegekräfte? Das können die erzählen, die es bereits versucht haben. Carol Pirath ist Krankenpflegerin aus Rio de Janeiro. Sie hat für sechs Monate in einem Krankenhaus in Süddeutschland gearbeitet. Dann kehrte sie ernüchtert zurück nach Brasilien. "Du arbeitest als billige Arbeitskraft. Und so sehen sie dich auch."
Eigentlich sollte Carols Abschluss zügig anerkannt werden. Doch das dauerte länger. Und sie verdiente monatelang nur den Lohn einer Hilfskraft. "Eine Zweizimmerwohnung für mich und meinen Mann kostet etwa 1000 Euro. Und solange mein Abschluss nicht anerkannt wurde, habe ich 1400 Euro verdient. Das ist eine ganz einfache Rechnung. Mit 400 Euro kann man in Deutschland nicht leben."
Den höheren Löhnen stehen also auch höhere Kosten entgegen. Das erste halbe Jahr ist deshalb für viele ernüchternd. Carol war geschockt, wie hart die Arbeit für Pflegekräfte in Deutschland ist. "Ich habe manchmal sechs Nachtschichten nacheinander gearbeitet, ohne richtige Pausen. Wir waren zu zweit und für 34 Patienten zuständig. In Brasilien konnte ich mich nach der Arbeit noch mit Freunden treffen. In Deutschland nicht. Da kam ich von der Schicht und wollte nur noch schlafen."
"Ausländische Pflegekräfte arbeiten doppelt so hart"
Carols deutsche Kolleginnen im Krankenhaus hätten sich oft krankgemeldet. "Ich sehe das inzwischen als Notwehr, weil die Arbeit so stressig ist." Aber ausländische Pflegekräfte trauten sich das nicht. "Die arbeiten doppelt so hart, aus Angst, ihren Job zu verlieren." Dazu kommt ein anderer Umgang der Pflegekräfte untereinander. "Du arbeitest wie ein Hund und niemand interessiert sich dafür, wie es dir geht", berichtet Carol. "In Brasilien haben sich die Kollegen umeinander gekümmert. In Deutschland nicht. Da ist die Grundhaltung eine andere."
Und es gibt noch ein weiteres Problem: Brasilianische Pflegekräfte sind oft höher qualifiziert als deutsche. "Die meisten haben studiert", sagt Lisa Peppler, Migrationsforscherin mit Schwerpunkt Pflege an der Berliner Charité, "und in Deutschland arbeiten sie mit weniger medizinischem Verantwortungsbereich. Da fühlen sie sich degradiert. Und das sorgt für Frust auf beiden Seiten."
Das hat auch Carol erlebt: "Pflegekräfte in Deutschland müssen Verbände wechseln, Medizin geben und die Abläufe auf der Station organisieren. Das sind weniger Aufgaben als in Brasilien. Ich hatte zehn Jahre Berufserfahrung, hatte das studiert. Und dann bekam ich ständig gesagt, das müsse man so und so machen. Aber ohne Begründung. Dann wurde so getan, als ob ich die Sprache nicht verstehen würde."
Gleichzeitig wird die Pflege in Deutschland immer stressiger. "Das ist einer der springenden Punkte, wenn es um Anwerbung geht", betont Migrationsforscherin Peppler von der Charité: "Die neuen Pflegekräfte, die nach Deutschland kommen, müssen eingearbeitet werden. Durch die unglaublich hohe Arbeitsbelastung hier ist das aber kaum möglich. Dann können sie nicht zufriedenstellend für sich und das Team arbeiten."
Damit Anwerbung klappt, müssen sich also erst die Zustände in der Pflege in Deutschland verbessern. Sonst sind die angeworbenen Pflegekräfte schnell wieder weg. "Deutschland ist für mich nicht das Pflege-Wunderland", sagt Kinder-Krankenpflegerin Vanessa. "Niemand glaubt, dass die Pflege in Deutschland genug wertgeschätzt wird." Trotzdem will sie im Herbst zum Arbeiten dorthin gehen. Sie hat Vorteile und Nachteile abgewogen. "Ich hoffe auf ein besseres Leben, und wenn es auch nur ein ganz kleines bisschen besser ist."
Quelle: ntv.de