Raketeneinschlag in Polen Was das Luftabwehrsystem S-300 kann
16.11.2022, 18:05 Uhr
Vom Flugabwehrsystem S-300 existieren mehrere Varianten.
(Foto: imago/ITAR-TASS)
Die Hinweise verdichten sich, dass die in Polen detonierte Rakete von der Ukraine abgefeuert wurde. Im Fokus der Ermittlungen steht das in den 70er Jahren entwickelte S-300. Das Raketensystem gilt als eine der leistungsfähigsten Flugabwehrwaffen.
Zeitgleich mit massiven russischen Luftangriffen auf die Ukraine schlug am Dienstag eine Rakete im polnischen Grenzgebiet ein. Dabei kamen zwei Menschen im Dorf Przewodow ums Leben. Schnell geriet Moskau in Verdacht. Doch mittlerweile verdichten sich die Hinweise, dass die Rakete von ukrainischem Territorium abgefeuert wurde. Einem Bericht des Senders CNN zufolge soll das Radar eines US-Überwachungsflugzeugs die Flugbahn der Rakete erfasst haben. Polens Präsident Andrzej Duda sagte, es sei "höchstwahrscheinlich", dass die Rakete von der Ukraine abgefeuert wurde. "Absolut nichts deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte." Dieser Einschätzung schloss sich auch die NATO an.
Im Fokus der Ermittlungen steht derzeit eine Luftabwehrrakete vom Typ 5V55, die unter anderem vom Flugabwehrsystem S-300 verwendet wird. Raketen der Serie 5V55 sind 7,25 Meter lang und haben einen Durchmesser von 0,51 Meter. Sie verwenden hochexplosive Splittergefechtsköpfe, die durch Annäherungs- und Aufprallzünder ausgelöst werden, um ihre Ziele zu zerstören. Die Reichweite liegt je nach Modell zwischen 47 und 75 Kilometern, was ebenfalls für eine ukrainische Flugabwehrrakete spricht.
"Offenbar vom Abfangkurs abgewichen"
"Russland liegt viel zu weit weg", sagt auch der Militärhistoriker Markus Reisner im Gespräch mit ntv.de. "Da der Einschlagsort acht Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt ist, müsste die Rakete im Westen der Ukraine abgefeuert worden sein." Der Einschlag sei im Zusammenhang mit einem russischen Luftangriff auf ein Objekt nahe der polnischen Grenze zu sehen, meint Reisner. "Dieses Objekt war geschützt durch ukrainische Fliegerabwehr und eine dieser Raketen ist offenbar vom Abfangkurs abgewichen."
Die S-300 gilt als eine der leistungsfähigsten Flugabwehrwaffen. Das auf einem Lkw montierte Raketensystem wurde zu Sowjetzeiten vom russischen Rüstungshersteller NPO entwickelt und 1978 in Dienst gestellt. Eingesetzt wird es hauptsächlich zur Abwehr von Luftangriffen und Marschflugkörpern. Russland setzt es in der Ukraine aber auch zur Bekämpfung von Bodenzielen ein. Über die Jahre wurde das System kontinuierlich verbessert. Heute existieren eine Vielzahl von Varianten, wovon einige auch gegen Kurzstreckenraketen effektiv sein können. Die derzeit modernste Weiterentwicklung ist das S-400, welches seit 2007 bei den russischen Streitkräften im Einsatz ist.
"Russland muss diesen sinnlosen Krieg beenden"
Hauptsächlich wird das System S-300 von Ländern in Asien und Osteuropa eingesetzt. Neben den NATO-Staaten Bulgarien und Griechenland nutzt auch die Ukraine die Waffe. 2016 lieferte Russland das System in den Iran. In der Ukraine dient es oftmals der Luftverteidigung großer Industrie- und Verwaltungsanlagen, Militärbasen und der Kontrolle des Luftraums gegen feindliche Angriffsflugzeuge.

Die russischen Streitkräfte nutzen die S-300 in der Ukraine auch gegen Bodenziele.
(Foto: IMAGO/SNA)
Mittlerweile existieren mehr als 20 verschiedene Raketentypen für das System S-300. Diese variieren bei Sprengkraft und Präzision. Mit dem System können Raketen mit einem Gewicht bis zu 150 Kilogramm eingesetzt werden. Leistungsstarke Versionen der Raketen können anfliegende Ziele im Umkreis von 200 Kilometern abwehren. Geortet werden die Ziele von einer mobilen Radarstation.
Auch wenn die in Polen detonierte Rakete aus der Ukraine stammen sollte, trage Kiew dafür nicht die Schuld, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Russland trage vielmehr die "letztendliche Verantwortung". Bei dem Zwischenfall handele es sich um ein direktes Ergebnis des fortgesetzten Krieges gegen die Ukraine und die "massive Welle" der Raketenangriffe auf zivile Ziele. "Russland muss diesen sinnlosen Krieg beenden", so Stoltenbergs Forderung. Der Vorfall zeigt laut Stoltenberg generell, dass der russische Angriffskrieg "gefährliche Situationen" schaffe.
Quelle: ntv.de, mit dpa