Politik

"Fauxpas des Herzens" Was von Bidens Warschauer Satz bleiben könnte

Biden am Samstagnachmittag in Warschau.

Biden am Samstagnachmittag in Warschau.

(Foto: AP)

27 Minuten spricht US-Präsident Biden in Warschau. Von dieser Rede bleibt aber vor allem ein Satz über Russlands Präsident Putin in Erinnerung: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Wie kam es dazu? Und was könnte der Satz bewirken? Ganz klar ist das noch nicht.

Der Auftritt von US-Präsident Joe Biden am Samstagnachmittag im Warschauer Königsschloss war symbolkräftig gewählt. Zum Abschluss seiner Europareise, die im Zeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stand, wandte sich Biden an seine polnischen Gastgeber, die Verbündeten der USA und natürlich auch an den Aggressor.

Mehrfach bezeichnet Biden Russlands Präsident Wladimir Putin als "Diktator" oder "Tyrann". Tausende Menschen, viele mit ukrainischen, mache auch mit US-Flaggen, reagieren auf die deutlichen Worte immer wieder mit Applaus. Russland habe die Demokratie "erwürgt" und versuche dies auch anderswo zu tun, sagt Biden. Und: "Ein Diktator, der ein Imperium wieder aufbauen will, wird die Freiheitsliebe eines Volkes niemals auslöschen."

Erst ganz am Ende seiner 27-minütigen Ansprache sagt er aber den entscheidenden Satz, über den nun ganze Welt diskutiert: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Das Weiße Haus ruderte umgehend zurück. Ein ranghoher Vertreter des Weißen Hauses bemühte sich zu betonen, dass der Präsident mit seiner Äußerung nicht direkt zum Sturz Putins aufgerufen habe. "Die Botschaft des Präsidenten war es, dass es Putin nicht erlaubt sein darf, Macht über seine Nachbarn oder die Region zu haben. Er sprach nicht über Putins Macht in Russland oder einen Sturz der Regierung", sagte er weiter.

Dennoch entgegnete Kremlsprecher Dmitri Peskow umgehend: "Das entscheidet nicht Biden, der Präsident Russlands wird vom russischen Volk gewählt." Der Satz, der dem US-Sender CNN zufolge nicht im vorbereiteten Redetext gestanden hatte, wie ein Mitarbeiter des Weißen Hauses dem Sender bestätigte, war in der Welt.

Emotionaler Tag

Einem Analysten des Senders zufolge habe sich Biden vermutlich zu den überraschenden Worten hinreißen lassen. Der US-Präsident hatte zuvor im polnischen Nationalstadion untergebrachte ukrainische Flüchtlinge besucht. "Er hörte Bitten von jungen Müttern, für die Männer - Ehemänner, Väter, Brüder - zu beten, die sie zurückgelassen hatten", so CNN. Auf Fotos war Biden zu sehen, wie er Frauen und Kinder umarmte.

Als er danach ins Hotel zurückkehrte, sei er von Mitarbeitenden über neue Raketenangriffe in Lwiw informiert worden. Die Stadt liegt gerade mal 400 Kilometer von Warschau und nur etwa 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Bürgermeister Andrij Sadowy erklärte, die Angreifer hätten damit Biden "grüßen" wollen. Getroffen wurden ein Treibstofflager und eine Militäranlage, nach Angaben der lokalen Behörden gab es durch die Angriffe keine Todesopfer, aber fünf Verletzte. Doch auch Biden könnte die Raketeneinschläge als Provokation interpretiert haben.

Der "New York Times" zufolge ist die Äußerung ein Beleg dafür, welche Herausforderungen Biden bei seiner Reise meistern musste. Einerseits sei es bei der Europa-Tour darum gegangen, die "Aufmerksamkeit der Welt" auf Putins Gräueltaten zu lenken. Gleichzeitig musste Biden aber auch die Anti-Putin-Allianz zusammenhalten und eine Eskalation des Konfliktes vermeiden. Offenbar wäre Biden auch bereit gewesen, in die Ukraine zu fahren, was dann allerdings von seinem Stab ausgeschlossen wurde.

Die "Washington Post" nannte Bidens Warschauer Rede die trotzigste und aggressivste Russland gegenüber seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan. Sätze wie: "Denken Sie nicht einmal daran, sich auf einen einzigen Zentimeter NATO-Territorium zu bewegen", waren aber von Bidens Redenschreibern mit Kalkül ausgearbeitet worden.

Weniger Chancen für Kompromiss?

Die spontan geäußerten neun Worte von Biden waren das nicht. Die "Washington Post" zitiert Aaron David Miller, Diplomat und Senior Fellow am Carnegie Endowment for International Peace mit den Worten, dass man den Satz "einen Fauxpas des Herzens" nennen könnte. "Wenn Biden morgen die Augen schließen und zehn Wünsche frei hätte, wäre einer, dass es einen Führungswechsel in Russland gibt", so Miller.

Der Politikwissenschaftler und Professor für internationale Beziehungen, David Rothkopf, verglich Bidens Rede auf Twitter mit der des US-Präsidenten John F. Kennedy 1962 in Berlin. Seiner Ansicht nach markieren die Rede und der zurückliegende Kriegsmonat einen "historischen Wendepunkt". Auch wenn vor allem ein Satz davon in Erinnerung bleiben werde, gehe es um die Gesamtrichtung der Biden-Rede von Warschau, so Rothkopf. Der US-Präsident habe die "geopolitischen Fronten unserer Zeit" definiert und klargemacht, dass man sich auf die Seite des Fortschritts und gegen diejenigen stellen müsse, "die versuchen, die Uhr zurückzudrehen und Ideen zu fördern, die vor langer Zeit gescheitert sind".

Als sicher gilt, dass Russland Bidens Satz für seine Propaganda nutzen wird. Und nicht nur Richard Haass, Präsident des Council on Foreign Relations, fürchtet, dass der Satz Putins Interesse, einen Kompromiss zu suchen, erheblich verringert hat. "Denn wenn er glaubt, alles zu verlieren, dann wird er glauben, dass er nichts zu verlieren hat", zitiert das Magazin "Politico" Haass.

Quelle: ntv.de

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