Russische Besatzer in Cherson Wenn plötzlich in Rubel gezahlt wird
27.05.2022, 09:58 Uhr
Sieht so die Befreiung aus? Ein russischer Soldat bewacht die Allee der Helden in Cherson.
(Foto: dpa)
Seit Wochen halten russische Truppen Cherson besetzt und wollen es formell an Russland angliedern. Nun lädt das Verteidigungsministerium zu einer Pressereise ein und betont, dass der Protest der Bevölkerung "begrenzt" sei. Dabei ist fast die Hälfte geflohen, einige äußern sich besorgt.
In Cherson wehen russische Flaggen, wenn auch nur wenige. Mehr als zwei Monate ist es her, dass die südukrainische Stadt von russischen Truppen eingenommen wurde. Nun dringen die neuen, von Moskau eingesetzten Machthaber auf eine formelle Angliederung an Russland. Die Bewohner der Stadt sind besorgt - und wünschen sich eine Rückkehr zur Normalität.
Der Großraum Cherson ist die einzige Region der Ukraine, die vollständig von russischen Truppen kontrolliert wird. Das russische Militär rückte Anfang März schnell von der benachbarten Krim-Halbinsel aus in das Gebiet ein. Zu diesem Zeitpunkt waren die ukrainischen Truppen vor allem mit der Verteidigung der Hauptstadt Kiew beschäftigt.
Die Informationen, die seit der russischen Eroberung aus Cherson an die Außenwelt gelangen, stammen größtenteils von der neuen Verwaltung, die von Russland eingesetzt wurde. Nun veranstaltete das russische Verteidigungsministerium eine Pressereise nach Cherson, an der Journalisten der Nachrichtenagentur AFP teilnahmen.
Das Gebiet von Cherson ist im Vergleich zu anderen Teilen der Ukraine wenig verwüstet. Wie die AFP-Reporter aus der Stadt berichteten, waren keine Anzeichen von Zerstörung zu sehen, abgesehen von ein paar ausgebrannten Militärfahrzeugen an den Ortsausgangsstraßen. Hin und wieder waren Artilleriesalven und Flugabwehrfeuer von der etwa 60 Kilometer entfernten Frontlinie zu hören.
Bei Telegram waren Botschaften aufgetaucht, wonach Soldaten in Cherson Proteste gegen die russische Kontrolle aufgelöst haben sollen. Alexander Kobez, dem Moskau einstweilen die Verantwortung über Cherson übertragen hat, beschreibt die pro-ukrainischen Proteste als "begrenzt" und "erwartbar".
Busfahrer: Menschen "sehr besorgt"
Beim Besuch eines Busbahnhofs in Cherson sagt Fahrer Alexander Loginow den AFP-Reportern, die Menschen seien "sehr besorgt". Zu der Liste ihrer Bedenken gehörten Instabilität sowie die Auszahlung der Löhne, da "ukrainische Banken schließen", erläutert der 47-Jährige. Seit Montag gilt der Rubel neben dem ukrainischen Hrywnja als offizielles Zahlungsmittel in Cherson. "Um ehrlich zu sein, es ist einfach Krieg", sinniert Loginow. "Viele Menschen verstehen noch nicht, was passiert ist."
Kobez konzentriert sich nach eigenen Angaben unterdessen auf zwei Dinge: Er wolle sicherstellen, dass die örtliche Bevölkerung sich nicht im Stich gelassen fühle - und Cherson solle offiziell als Teil Russlands anerkannt werden. Letzteres wünschen sich auch viele hochrangige russische Funktionäre.
Mit der Kontrolle über Cherson und Teile der Nachbarregion Saporischschja will der Kreml eine strategische Landverbindung zwischen den russisch kontrollierten Gebieten der Ukraine und der 2014 von Russland annektierten Krim-Halbinsel schaffen.
In der Stadt Cherson selbst tritt die russische Armee eher diskret auf. Im Umland gibt es zahlreiche Kontrollpunkte und in der Nähe von stark bewaldeten Gegenden sind Patrouillen zu sehen.
Fast die Hälfte der Einwohner geflohen
Viele Bewohner haben Cherson verlassen. Ukrainische Behörden schätzen, dass 45 Prozent der vormals 300.000 Einwohner geflohen sind sowie 20 Prozent der Bevölkerung aus der umliegenden Region, in der vor dem Krieg rund eine Million Menschen wohnten. Nach Schilderung eines AFP-Reporters war bei seinem Besuch mehr als die Hälfte der Geschäfte und Cafés der Stadt geschlossen.
In Skadowsk, einer kleinen Hafenstadt am Schwarzen Meer, 100 Kilometer südlich von der Oblast-Hauptstadt Cherson, wollen Passanten nicht über ihr Leben unter russischer Kontrolle reden. Lediglich Vera Mironenko, alleinerziehende Mutter, ist bereit zu sprechen. Sie habe ihre Arbeit in einem Geschäft aufgeben müssen und lebe von ihrem Ersparten, sagt sie.
Mironenko beschwert sich über die "stratosphärischen Preise" für Lebensmittel wie auch darüber, dass Medikamente unmöglich zu bekommen seien. "Wir warten darauf, dass das Leben zur Normalität zurückkehrt", sagt sie. "Wir warten zumindest auf irgendeine Form von Obrigkeit."
Quelle: ntv.de, Andrey Borodulin, AFP