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Antwort auf "offenen Brief" Diese "Intellektuellen" müssen den Verstand verloren haben

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Seit 66 Tagen kämpft die Ukraine nicht nur um ihre Freiheit, sondern auch um ihre Staatlichkeit.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

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Der offene Brief von Künstlern und Intellektuellen um "Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer ist eine Aufforderung zur Kapitulation an die Ukraine. Und zugleich ein Dokument der Ahnungslosigkeit und Arroganz.

In den letzten Tagen und Wochen konnte man mehrfach die Forderung hören, dass es beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einem Kompromiss kommen soll, den "beide Seiten akzeptieren können". So stand es zuletzt in einem von der Zeitschrift "Emma" veröffentlichten offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, den viele deutsche Intellektuelle und Künstler unterschrieben haben. Auch sonst heißt es häufig, der Krieg müsse am Verhandlungstisch entschieden werden. Während das auf den ersten Blick vernünftig klingen mag, habe ich noch kein einziges Mal nach solchen Sätzen etwas Vernünftiges und Realistisches gehört. Vielmehr offenbaren diese Standardsätze die völlige Unkenntnis ihrer Verfasser über die Lage in der Ukraine, generell in Osteuropa sowie über das politische System Russlands.

Seit 66 Tagen muss die Ukraine, die ausdrücklich nie eine Bedrohung für Russland darstellte, nicht nur um ihre Freiheit, sondern um ihre Staatlichkeit kämpfen. Nicht, weil sie diesen Krieg in irgendeiner Form will, sondern weil es aufgrund der vollkommen grund- und anlasslosen russischen Aggression anders nicht geht. Auch wenn seit dem Treffen in Istanbul Ende März keine weitere persönliche Verhandlungsrunde der ukrainischen und russischen Delegationen mehr stattfand, gehen die Verhandlungen im Format von Videokonferenzen ununterbrochen weiter. Geredet wird genug, das war auch vor dem Ausbruch des großen Krieges der Fall. Nur will Russland keine ernsthaften Verhandlungen, sondern eine faktische Kapitulation der Ukraine. Das ist aufgrund der aktuellen militärischen Lage genauso realitätsfern wie das russische Kriegsziel einer "Entnazifizierung" der Ukraine.

Keine "Entnazifizierung", sondern Entukrainisierung

In den besetzten Gebieten im Südosten der Ukraine wird diese "Entnazifizierung" durchaus ernst genommen. Es gibt "Filtrationsmaßnahmen" und Zwangsumsiedlungen, Journalisten und Politiker werden entführt, auf Demonstranten wird geschossen. Dies ist allerdings keine "Entnazifizierung", sondern eine Entukrainisierung, gemäß der Putin-Rede vom 21. Februar, in der er der Ukraine das Existenzrecht klar und deutlich absprach.

Dies sind die Umstände, unter denen die Ukrainer entscheiden müssen, ob sie weiterkämpfen und sich verteidigen wollen. In der Ukraine stellt sich diese Frage so jedoch gar nicht. Natürlich wollen die Menschen keinen Krieg. Sie wissen aber, dass ihre Existenz auf dem Spiel steht.

Mit Blick auf "das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung" heißt es in dem "Emma"-Brief: "Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis." Wer bei dieser Ausgangslage solche Sätze raushaut und die ukrainische Regierung indirekt, aber deutlich für das Leid der eigenen Bevölkerung moralisch mitverantwortlich macht, muss nach den Tragödien von Butscha, Borodjanska oder Mariupol den Verstand verloren haben.

Entschuldigung, dass die Ukraine existiert

Dazu kommt eine atemberaubende Herablassung: Die Annahme, "dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren 'Kosten' an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle", halten "Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer und ihre Mitunterzeichner für einen "Irrtum", denn: "Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur." Soll heißen: Die Entscheidung der Ukraine, für ihr Existenzrecht zu kämpfen, darf von Deutschland korrigiert werden. Es scheint, nicht nur Putin, sondern auch deutsche Intellektuelle halten mein Land für eine Art Kolonie.

Ich wünschte mir, solche Aussagen wären zumindest ehrlich und hätten tatsächlich mit der Angst vor einem neuen Weltkrieg oder einem Atomkrieg zu tun. In Wirklichkeit sind sie aber Ausdruck einer unglaublichen Ignoranz, aber auch der Bereitschaft, Folter, Massenmorde und Vergewaltigungen an Ukrainern in Kauf zu nehmen. Der ganze Brief klingt so, als solle die Ukraine mit ihrem Existenzkampf endlich nicht mehr nerven. Beinahe will ich mich als Ukrainer bei den deutschen Briefeschreibern dafür entschuldigen, dass die Ukraine überhaupt existiert und ihr ruhiges Leben stört.

Dass die "Emma"-Unterzeichner bis heute nicht verstanden haben, dass Wladimir Putin keine Motive für sein verbrecherisches Handeln braucht, ist so realitätsfern, dass man an dem Begriff "Intellektuelle" zu zweifeln beginnt. Nur der Mann, der einen mit Lügen begründeten Vernichtungskrieg gegen sein Nachbarland führt, kann für Zerstörung und menschliches Leid in der Ukraine verantwortlich gemacht werden. Mit Putin wurde jahrzehntelang geredet, unmittelbar vor dem Krieg mehr als je zuvor. Er will keinen "Kompromiss", schon gar keinen, mit dem "beide Seiten" leben können.

Putin wird immer ein Motiv erfinden

Der Ukraine bleibt daher nichts anderes übrig, als Erfolge auf dem Schlachtfeld zu suchen. Denn wie sollte heute aufgrund der russischen Forderungen ein Kompromiss aussehen? Dass die Ukraine die Krim und die sogenannten Volksrepubliken im Donbass nicht anerkennen kann, sollte klar sein, kein Land der Welt würde anders handeln. Oder soll Kiew in der Vorstellungswelt der Briefeschreiber die Abtrennung dieser Gebiete hinnehmen, während Russland seine Angriffe fortsetzt und in Cherson gar ein "Referendum" über die Loslösung von der Ukraine plant? Auf welchem Planeten wäre das realistisch? Antworten auf solche Fragen sollte man von den "Intellektuellen" nicht erwarten, denn über Standardfloskeln hinaus haben die Unterzeichner offenkundig nicht gedacht.

Völkerrechtlich ist klar, dass Deutschland durch Waffenlieferungen nicht zur Kriegspartei wird. Aus russischer Sicht war Berlin das schon vor dem Krieg und Russland sieht sich in der Ukraine sowieso in einem Stellvertreterkrieg mit der NATO. Ohnehin wird Deutschland vom Kreml bestenfalls als eine Art rechte Hand der USA gesehen. Was auch immer Deutschland tut, Putin wird für sein Handeln immer ein passendes Motiv erfinden. Ängste vor einem Atomkrieg zu verbreiten, um Zweifel in der deutschen Gesellschaft zu säen und deren Entschlossenheit zu gefährden, dürfte ganz in seinem Sinne sein. Die Deutschen sollten sich dadurch nicht beirren lassen und sich lieber ernsthaft damit auseinandersetzen, was tatsächlich in der Ukraine passiert, statt den Krieg als unangenehmes Problem am Rande abzutun. Zumindest ein paar deutsche Intellektuelle scheinen hier starken Nachholbedarf zu haben.

Quelle: ntv.de

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