Politik

ISW-Experte im Interview"Wie die Russen dazulernen, macht mir Sorgen"

17.12.2025, 17:35 Uhr
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Russische Soldaten der Einheit "Zapad" (deutsch: Westen) feuern mit Artillerie gegen ukrainische Stellungen. (Foto: IMAGO/SNA)

Während in der Politik manche auf Waffenruhe vor Weihnachten hoffen, rücken die russischen Truppen unbeirrt vor. ISW-Chef-Analyst George Barros erklärt ntv.de, warum dieser Winter für die Verteidiger so schwierig wird.

ntv.de: Herr Barros, monatelang kämpften die Ukrainer mit allem, was sie aufbringen konnten, um Pokrowsk. Dann ging die Stadt verloren. Sehen wir die Niederlage der Ukraine heraufziehen?

George Barros: If it bleeds, it leads - so heißt es in den US-Medien. Wenn es blutet, dann läuft die Meldung oben. Und Pokrowsk blutet. Aber es ist wichtig, dass wir das im operativen Kontext besprechen, denn die Russen haben sehr lange um die Stadt gekämpft und sehr lange keinen Erfolg gehabt. Jetzt hat Putin die Meldung: Die Ukraine hat Pokrowsk verloren. Die Einnahme der Stadt durch die russischen Truppen ist die Basis für eine ziemlich ausgeklügelte Operation im Informationskrieg. Da will Russland jetzt mit Pokrowsk einen Sieg einfahren.

Warum vor allem dort? Schließlich war Pokrowsk auch ein wichtiger Knotenpunkt für die Logistik.

Das stimmt, aber das müssen wir uns genau anschauen. Völlig korrekt, Pokrowsk hatte als Logistik-Hub herausragende Bedeutung aufgrund der Eisenbahnlinie und der Autostraße, die dort entlangführen. Beide hatten operative Bedeutung für die ukrainischen Truppen, die darüber ihren Nachschub organisierten. Aber wenn wir uns Karten vom Kriegsverlauf aus dem Juni 2025 anschauen, dann ist dort erkennbar: Die Russen haben ihr Ziel, diese ukrainischen Nachschublinien zu zerstören, schon damals erreicht. Schon seit Juni, seit sechs Monaten, funktioniert Pokrowsk nicht mehr als Logistikknotenpunkt. Die Nachschublinien sind seitdem unterbrochen.

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George Barros, Experte für Globale Studien, leitet am renommierten US-Institute for the Study of War das Analyseteam für Russland und den Ukrainekrieg. Zum Kriegsverlauf in der Ukraine liefert das ISW seit Beginn der Vollinvasion ein tägliches Update. (Foto: ISW)

Warum ist aber dieser Sieg im Informationskrieg so relevant? Putin könnte mit seinem Propaganda-Apparat in Russland doch alles behaupten.

Den Russen ist bewusst, dass der eigentliche Schwerpunkt dieses Krieges derzeit nicht unbedingt in den taktischen Entwicklungen auf dem Schlachtfeld liegt. Entscheidend ist die Solidarität der internationalen Koalition. Ohne die internationale Unterstützung hat die Ukraine keine Chance, aus diesem Krieg als souveräner Staat herauszugehen.

Dann sind wir der Adressat in Putins Operation?

Medienkonsumenten genauso wie Politiker hören auf die Nachrichten und denken, "Hui, die Ukrainer haben eine wichtige Stadt verloren". Das unterstützt das Narrativ, Russlands Sieg sei unvermeidbar, die Russen seien nicht zu stoppen. Egal wie, sie werden immer weitermarschieren. Das sollen wir denken.

Was denken Sie?

Was mir Sorgen bereitet, ist die Einsatzkunst der Russen. Sie lernen dazu, ihr Vorgehen wird immer ausgefeilter. Besonders auffällig ist, wie fähig die Russen bei der Luftüberwachung des Schlachtfelds geworden sind. Mit dem Einsatz von Luftstreitkräften kann man bestimmte Teile der Frontlinie isolieren, also die Versorgungswege abschneiden. Die Russen machen das mit ihren Drohnen, und zwar nicht nur innerhalb der ersten 30 Kilometer, sondern 40, 50, 60, manchmal bis zu 90 Kilometer von der Front entfernt. Sie greifen Straßen an, Züge, Logistikzentren, und das ist ein großes Problem, weil die Ukrainer an der Front natürlich auf Nachschub angewiesen sind. Diese Situation unterscheidet sich von den ersten Kriegsjahren. Bislang hatten die Ukrainer immer ein sicheres Hinterland, aus dem heraus die Front versorgt wurde. Das ist jetzt vorbei. Noch etwas macht mich unruhig.

Wir hören.

Die Ukrainer müssten genau in dieser etwas größeren Distanz zur Front auch selbst besser werden. In der mittleren Reichweite. Sie kämpfen mit ihren kleinen Drohnen sehr effektiv in der Kill-Zone nahe der Front. Auch in großer Distanz, ab 100, 200, 300 Kilometern Entfernung, fliegen sie eine gute strategische Kampagne gegen kritische russische Infrastruktur - Raffinerien, Gaswerke. Aber in der mittleren Reichweite, zwischen 30 und 120 Kilometern Entfernung zur Front, passiert gar nichts. Da haben sie in der Vergangenheit mit amerikanischen Himars gewirkt, doch das funktioniert nicht mehr, weil die Russen im Bereich der elektronischen Kriegführung - mit Störsendern zum Beispiel - so viel besser geworden sind. Himars-Raketen kommen nicht mehr ins Ziel.

Könnte man die Himars an die russischen Fähigkeiten anpassen?

Ich fürchte nein, denn die USA liefern den Ukrainern nur die alte Version des Raketenwerfers. Es gibt eine höher entwickelte Himars-Rakete, die wir aber für die Nato zurückhalten. Wir wollen den Russen nicht die Chance geben, an der neuen Version zu lernen, wie man sie abwehrt. Die alte Version kann man kaum adaptieren, mit Himars sind wir in der Sackgasse gelandet. In der mittleren Reichweite müssen die Ukrainer wieder Fähigkeiten aufbauen.

Was wäre der Weg dorthin? Drohnen?

Drohnen kann man nutzen, sie bergen aber das Problem, dass sie nicht genug Sprengladung tragen können, um härtere, speziell geschützte Ziele zu zerstören. Die Ukrainer müssten in diesen Angriffen Drohnen und Raketen für die mittlere Reichweite miteinander kombinieren. Dafür hat Kiew derzeit nicht die perfekte Waffe, aber die Industrie arbeitet daran. Allerdings bekommen sie aus der Truppe kein wirkliches Nachfrage-Signal. Das ist ein Problem, und das betrifft die Kommando-Ebene, also die Operationsplanung der Ukrainer. Die Kommandeure zielen ungern auf die mittlere Reichweite.

Wieso das denn? Hat das irgendwelche Nachteile?

Wir haben ja eben schon besprochen, was wir auf dem Schlachtfeld sehen: Viele Kommandeure und auch die ukrainischen Drohnen-Einheiten zielen auf das, was ihnen direkt vor die Nase kommt, also auf den Nahbereich. Sie müssten aber dringend verstehen, wie wichtig die Schläge in die russische Tiefe sind: Zerstöre die russische Einheit nicht erst, wenn du sie direkt vor der Nase hast, sondern zerstöre sie, wenn sie in Donezk oder in Rostow am Don aus dem Zug steigt. Das ist viel effektiver.

Was genau gibt es da nicht zu verstehen?

Naja, so einfach ist es für die Kommandeure nicht. Einen schlechten Einfluss hat letztlich das Punktesystem, das unter den Drohneneinheiten entwickelt wurde. Das wird gehandhabt wie ein Spiel, mit Belohnungen. Die Einheiten für unbemannte Systeme haben eine Rangliste für zerstörte Ziele - Radarsysteme, Panzer, Personen, für jeden Typ bekommen sie unterschiedlich viele Punkte, und die lassen sich in Geld umwandeln. Für viele zerstörte Ziele, die in der Rangliste oben stehen, gibt es also mehr Geld, um sich Ausrüstung und Munition für die Einheit zu kaufen.

Klingt smart. Wenn das Kommando möchte, dass die Frontkämpfer sich auf einen Zieltypen fokussieren, geht es mit dem Preis hoch?

Genau so machen sie das. Erkennt die Kommandozentrale: Wir müssen mehr Artilleriesysteme ausschalten, dann erhöhen sie die Belohnung für Artillerie von fünf Punkten auf zehn Punkte, als Beispiel. Die Einheiten werden alles daransetzen, eher Artillerie als Panzer anzugreifen. In dieser Rangliste müsste es einen Faktor für die Distanz geben. Wenn es zehn Punkte bringt, einen Panzer in der Todeszone abzuschießen, müsste es 100 Punkte bringen, ihn weit hinter der Front, in Rostow am Don zu zerstören. Aber so funktioniert das System leider nicht. Die Einheiten sehen darum keinen Grund, in mittlerer Distanz anzugreifen. Entsprechend benötigen sie für mittlere Distanz kaum Waffen und Munition. Also erreicht die Industrie auch nur eine schwache Nachfrage und sie produziert kaum. Es ist ein fataler Kreislauf, aber wir versuchen, dieses Verständnis auf ukrainischer Seite herzustellen, da muss ein anderes Mindset her.

Wie zuversichtlich sind Sie? Eine Denkweise ändert man nicht von heute auf morgen.

Das stimmt, aber das ukrainische Militär ist auch kein Monolith. Es gibt auch Korps-Kommandeure, die das Problem sehen und bereit sind, es anzugehen. Es gibt Exzellenzzentren, die diese Faktoren der operativen Planung durchdringen. Aber es ist noch nicht so ausgereift wie bei den Russen.

Womit wir wieder bei Ihrer Sorge wären: Die Russen lernen dazu.

Exakt. Mit der Rubikon-Einheit etwa haben die Russen eine Elite-Truppe, die sehr stark ist bei der Aufklärung von Signalen, etwa wenn sie die Funkabstrahlung ukrainischer Stellungen lokalisiert. Sie greift gezielt Bedienmannschaften an, Nachschubrouten, Fahrzeugkolonnen, auch weit hinter der Front, und schaltet ukrainische Drohnenteams aus. Die Russen haben dieses operative Konzept tatsächlich ausgearbeitet, reifen lassen und dann skaliert. Im Vergleich dazu agieren die Ukrainer noch etwas zusammenhanglos, sind sich nicht einig, was Priorität haben sollte, richten die Hersteller nicht danach aus. Das wäre aber der Schlüssel, um hier nach vorn zu kommen. Eine der wichtigsten Herausforderungen, die ich derzeit sehe.

Mit George Barros sprach Frauke Niemeyer im Rahmen der Konferenz Defense Baltics in Litauen, ausgerichtet u.a. von der Friedrich-Naumann-Stiftung.

Quelle: ntv.de

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