Frühere afghanische Ministerin "Wir Frauen werden harte Monate erleben"
18.07.2021, 09:27 Uhr
Hosna Jalil möchte bald in ihr Heimatland zurückkehren.
Sie war schon stellvertretende Innenministerin und stellvertretende Ministerin für Frauen von Afghanistan - alles im Alter von 29 Jahren. Über ihre Rolle als Vorbild sagte sie mal: "Ich habe die Tür nicht nur für Frauen geöffnet, sondern auch für junge Menschen, für Bürger." Doch die Lage in ihrem Heimatland hat sich seit dem Abzug der internationalen Truppen grundsätzlich verändert. Die Taliban sind auf dem Vormarsch und die Gefahr ist groß, dass das Land zurückkehrt in eine dunkle Zeit. Jalils größte Sorge: Dass Afghanistan zu einem "vergessenen Land" werde. Gerade hat Jalil einen Master in "Security Studies" in den USA angefangen. Zurückkehren in ihr Heimatland will sie schon in ein paar Monaten.
ntv.de: Frau Jalil, Sie befinden sich seit ein paar Wochen in den USA. Sind Sie besorgt darüber, dass Ihre Landsleute denken könnten, Sie seien aus in Ihrem Heimatland geflohen?
Hosna Jalil: Ich verstehe, dass die derzeitige Lage in Afghanistan demoralisierend für die Menschen sein kann. Als es bekanntgegeben wurde, dass ich nicht mehr die stellvertretende Ministerin für Frauen sein würde und in die USA gereist bin, habe ich von ehemaligen Kollegen übermittelt bekommen, dass einige denken, dass ich das Land aufgrund der aktuellen Sicherheitslage verlassen hätte. Die Wahrheit ist aber: Die Menschen brauchen uns jetzt mehr denn je. Für mich war es eine enorm schwierige Entscheidung, Afghanistan temporär zu verlassen. Ich hatte zwei Optionen. Es war sehr schwer, mich zwischen dem Weg zu entscheiden, bei meinen Leuten in Afghanistan zu bleiben oder einen Studienplatz in "Security Studies" anzunehmen und mich weiterzuentwickeln. Die öffentliche Moral im Land ist gerade wichtiger denn je. Wir dürfen jetzt nicht flüchten. Deswegen kann ich es kaum erwarten, in ein paar Monaten zurück nach Hause zu fahren.
Als wir uns das letzte Mal Ende 2019 unterhalten haben, waren Sie vorsichtig optimistisch mit Blick auf die Zukunft von Afghanistan. Wie ist Ihre Meinung heute?
Ich war optimistisch, ja. Aber ich muss auch realistisch sein, wenn ich auf die kommenden Monate blicke. Damals, als ich stellvertretende Innenministerin war, haben wir an einem Plan gearbeitet, in dem wir verschiedene Szenarien durchgespielt haben - vor allem mit Blick auf die Polizei in Afghanistan. Es gab aber einen Faktor, den wir nicht so ernsthaft kalkuliert haben wie den Truppenabzug der USA. Und das war der Abzug der europäischen Truppen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die zivilen Vertreter der NATO uns damals die höchste Zusicherung gegeben hatten, dass sich nichts verändert habe. Der damals zuständige hochrangige zivile Vertreter der NATO in Afghanistan, Stefano Pontecorvo, sagte uns, dass die NATO bis 2024 in Afghanistan bleiben würde und uns auch finanziell unterstützen würde.
Nachdem sich die Lage nun grundlegend verändert hat: Welche Szenarien sehen Sie für Afghanistan?
Es ist gut möglich, dass sich die Kämpfe gegen die Taliban in die Länge ziehen. Das ist sehr teuer für Afghanistan. Selbst wenn wir die das internationale Entwicklungsbudget erhalten, werden wir uns trotzdem mit Budgetdefiziten im Sicherheitssektor beschäftigen müssen. Unsere 2,5 Milliarden US-Dollar an Staatseinnahmen wären da nicht genug, um unsere eigenen Kosten im Griff zu halten und die Ausgaben im Militärbereich zu decken. Das bleibt eine große Sorge. Ein Szenario also: Dass die Kämpfe gegen die Taliban auf dem Schlachtfeld weitergehen, wir aber gleichzeitig mit ihnen reden und einen Friedensprozess haben.
Ist "fight and talk" (kämpfen und verhandeln) denn sinnvoll?
Ich bin der Meinung, dass man entweder kämpfen oder verhandeln muss. Beides lässt sich nicht kombinieren. Der Präsident Afghanistans (Aschraf Ghani, Anmerkung d. Red), der eine führende Rolle im Friedensprozess hat, ist auch der Anführer der Streitkräfte. Es ist also sehr schwer, sich parallel in zwei gegensätzliche Richtungen zu bewegen. Ich persönlich glaube nicht an die Verhandlungen mit den Taliban. Ich glaube, dass man sie bekämpfen muss und das tun wir. Ich finde es aber trotzdem wichtig, dass wir weiterhin eine Ebene für Gespräche ermöglichen und diese nicht komplett ausschließen.
Welche Szenarien gibt es noch?
Das zweite Szenario ist, dass die Taliban in einen Verhandlungsprozess eintreten und dann irgendwie reintegriert werden. Das wäre sicherlich das beste Szenario. Sie würden dann unter der Struktur der derzeitigen Regierung eingegliedert werden, damit wir nicht eine komplett neue Struktur schaffen müssten. Allerdings würde es auch in diesem Szenario Rückschläge geben, z.B. wenn es um Frauenrechte, Menschenrechte oder die Rechte für Minderheiten und das Thema Inklusion geht. Sogar mit Blick auf wirtschaftlichen Fortschritt, dem Zugang zu Bildung - nicht nur für Frauen, sondern für die gesamte Bevölkerung - gäbe es Rückschritte und der Fortschritt würde verlangsamt. Aber immerhin würden wir nicht komplett die Zeit zurückdrehen.
Welches wäre das denkbar schlechteste Szenario?
Das Worst-Case-Szenario wäre, dass die Taliban die Macht übernehmen. Afghanistan würde zu einem vergessenen Land werden und niemand hätte hier die Möglichkeiten seine Menschen- und Bürgerrechte zu verteidigen. Das Volk müsste dann seine Stimme erheben und sich gegen die Taliban stellen, aber das würde eben auch zu einem weiteren Bürgerkrieg führen. Der nördliche Teil Afghanistans würde sich jedenfalls gegen die Taliban stellen. Das Szenario also: Machtübernahme oder Bürgerkrieg.
In Deutschland gab es zuletzt viele Debatten darüber, ob die Mission der Bundeswehr in Afghanistan komplett gescheitert ist. Ist sie das?
Jeder Einsatz hat seinen eigenen Maßstab für Erfolg. Wenn ich mir die deutsche Mission anschaue, dann kann ich nicht sagen, dass sie gescheitert ist, aber sie war auch kein Erfolg. Sie war irgendwo in der Mitte. Es gab so viele Schlüsselwerte jeder einzelnen Mission von denen so viele nicht erreicht wurden. Deutschland war ja nicht nur in Afghanistan, um die Taliban zu bekämpfen, sondern auch, um Werte zu vermitteln und Entwicklungsarbeit zu betreiben. Ich kann nicht behaupten, dass sie das erreicht haben, was sie sich vor zwei Jahrzehnten zum Ziel gemacht haben. Aber wie gesagt: Die Mission ist nicht gescheitert und war zumindest teilweise auch ein Erfolg.
Sie sind auch ein Vorbild für viele Mädchen und junge Frauen in Ihrem Heimatland. Was bringt die Zukunft nun für all die jungen Frauen in Ihrem Land?
Wenn man mich fragt, was die Zukunft bringt für Mädchen und Frauen, dann gebe ich diese Antwort: Wir werden ein paar sehr harte Monate erleben. Wie wir es vorhergesagt haben, wird es ein hohes Maß an Gewalt geben und die Taliban werden alles daran setzen, noch mehr Gebiete zu übernehmen. Mit dem Abzug der westlichen Truppen denken die Taliban, dass sie den Krieg gewonnen und die USA rausgeworfen haben. Es werden also schwere Monate, aber wir werden nicht aufhören, zu kämpfen. Die Zeit zurückzudrehen, das ist keine Option für Afghanistan.
Was heißt all das für die jungen Menschen in Ihrem Land?
51 Prozent der Bevölkerung sind Frauen und mehr als 60 Prozent im Land sind junge Menschen, auch Teenager. Rund 70 Prozent sind jünger als 40 Jahre. Das ist die post-9/11 Generation. Das ist also zum Teil meine Generation, aber auch die Generation nach mir, die wirklich nach dem 11. September 2001 geboren wurde und zumindest einen Teil ihrer grundlegenden Menschenrechte genießen durfte. Natürlich gab und gibt es auch da immer noch Unterschiede zwischen den Städten und den ländlichen Gebieten, aber sie hatten jedenfalls eine deutlich bessere Kindheit im Vergleich zu mir und den Generationen davor. Sie haben so viel zu verlieren, weil sie auch viel erreicht und bekommen haben. Für sie wäre die Rückkehr zu einer Taliban-Ära ein Albtraum.
Mit Hosna Jalil sprach Philipp Sandmann
Quelle: ntv.de