Erich Vad im Interview "Wir laufen Gefahr, Russland zu unterschätzen"
14.05.2022, 07:15 UhrErich Vad war von Anfang an skeptisch: Der Ukraine-Krieg ist nicht militärisch zu lösen, sagt der ehemalige militärpolitische Berater von Altkanzlerin Angela Merkel und Brigadegeneral a.D. seit Wochen. Zwar plädiert auch er für Waffenlieferungen, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern. Doch am Ende müssten Verhandlungen stehen, so Vad im Gespräch mit ntv.de.
ntv.de: Die EU stockt ihre Hilfe noch einmal auf. Sie will der Ukraine 500 Millionen Euro zusätzlich für Waffen und Ausrüstung zur Verfügung stellen. Wie sehr wird der Ukraine dieses zusätzliche Geld helfen?
Erich Vad: Ich denke, das ist ein enormes Paket. Und damit kann die Ukraine auch eine Menge anfangen.
Was wird die Ukraine mit dem Geld machen?
Man wird sich bei der Ausrüstung und bei der Waffen-Beschaffung auf das konzentrieren, was man tatsächlich operativ militärisch jetzt braucht.
Was ist das?
Das sind vor allen Dingen weiterhin Panzerabwehrwaffen und Flugabwehrwaffen, aber auch leicht gepanzerte Fahrzeuge zum Mannschaftstransport. Zudem moderne Kommunikationsmittel. Und vor allen Dingen Drohnen. Wenn man jetzt auf die örtliche Gefechtslage schaut und auf die Kriegsführung der Russen und auch der Ukrainer, sieht man, dass das prioritär ist. Und dafür braucht man in der Tat viel Geld. Und das stellt die EU zur Verfügung.
Denken Sie, dass dieses militärische Gerät dann auch beschafft werden kann?
Ja, ich denke schon. Es gibt durchaus Länder und Hersteller, die liefern können.
Kaufen ist das eine, die Lieferung das andere. Gibt es überhaupt die Nachschubwege noch?
In der Tat, das ist eine berechtigte Frage. Für die Ukraine ist neben der Beschaffung die Verlegung dieses Geräts ins Land eine Herausforderung und vor allem die Frage: Wie kommt dieses Gerät in die Ostukraine? Denn von der slowakischen oder polnischen Grenze sind es 1000 Kilometer bis zur Front. Die müssen erstmal überbrückt werden. Die gesamte Nachschub-Logistik und die Versorgungswege der Ukrainer stehen im Feuer der Russen.
Und Luft- und Seewege ...
Über See und über Luft gibt es keine Möglichkeit, Waffen und Gerät in die Ukraine zu bringen. Das sind Wege, die ausgeschlossen sind. Und insofern muss man das alles mitdenken, wenn man über moderne Waffen und modernes Gerät für die Ukraine redet.
Wie bewerten Sie die bisherigen Lieferungen von EU-Ländern, also auch von Deutschland?
Ich denke, ohne die massiven Waffenlieferungen des Westens, übrigens auch schon vor dem Konflikt, wäre die Lage der Ukraine eine andere. Allen voran hat die Militärhilfe der Amerikaner, die ja seit der Krim-Annexion gegriffen hat, dem Land geholfen. Ohne das hätten die Russen sicherlich einen schnellen militärischen Erfolg erzielt.
Also hätte die Ukraine ohne diese Waffenlieferungen diesen Krieg längst verloren?
Sagen wir so: An eine schnelle Niederlage konnte man zu Anfang des Konfliktes noch denken, als die Russen Kiew schnell besetzen wollten. Aber das ist fehlgeschlagen. Wenn es den Ukrainern gelingt, den Krieg in die Länge zu ziehen, können die Ukrainer am Ende den Russen eine Niederlage bereiten. Daher kommt es bis dahin darauf an, einen Sieg der Russen und eine Niederlage der Ukraine zu verhindern. Die Ukrainer kämpfen entschlossen, heroisch, jetzt vor allem in der Ostukraine. Gegen eine russische Armee, die nur sehr langsam vorankommt. Und das auf einer Breite von 500 Kilometern mit über 100.000 Mann. Aber sie verteidigen sich tatsächlich sehr tapfer, und ohne das westliche Gerät ginge das so nicht.
Lassen Sie uns noch mal ganz konkret auf die militärische Lage in der Ukraine schauen. Wie schätzen Sie aktuell die Entwicklungen an der Front ein?
Wenn man objektiv auf die militärische Lage schaut, dann ist das weit von dem entfernt, was teilweise von ukrainischer, auch von der offiziellen ukrainischen Seite behauptet wird - und was sehr oft auch in den Medien kolportiert wird. Die Russen haben schon in operativ-militärischer Hinsicht das Sagen.
Sie meinen, die russische Armee steht besser da, als viele denken?
Die Russen kontrollieren die urbanen Zentren am Asowschen Meer und sie kontrollieren die Schwarzmeerküste. Da ist auch eine Seeblockade im Gange. Sie haben dort die absolute Herrschaft. Ja, sie hatten Verluste unter ihren Kampfflugzeugen. Aber die waren sehr, sehr moderat, verglichen mit der Zeit, in der dieser Krieg läuft.
Aber in der Ostukraine scheint die Situation doch sehr festgefahren?
Nun, die ukrainischen Kämpfer laufen in der Ostukraine tatsächlich Gefahr, eingekesselt zu werden. Sie haben recht, da ist noch nicht ausgemacht, ob das gelingt. Die Russen gehen operativ inzwischen sehr langsam, breit gefächert, koordinierter vor, nicht mehr so in tief gestaffelten Kolonnen wie zu Beginn des Konfliktes. Aber unterm Strich haben sie die militärische Dominanz und die Lufthoheit im Raum. Und das muss man stärker beachten, auch wenn man an Waffenlieferungen denkt.
Präsident Selenskyj spricht in seinen Videobotschaften schon von einer strategischen Niederlage Russlands. Sie sei für jeden auf der Welt offensichtlich. Vermutlich würden Sie es nicht so nennen, oder?
Nein, das gibt die militärische Lage so nicht her. Die Lage ist einfach vor Ort ganz anders. Als strategische Niederlage könnte man es bezeichnen, wenn man den Begriff Strategie ganz weit fasst.
Inwiefern?
Russland ist international isoliert. Wir haben ein Sanktions-Paket ohnegleichen auf den Weg gebracht. Hinzu kommt die bevorstehende NATO-Mitgliedschaft von Schweden und Finnland. Das verschlechtert natürlich die strategische Gesamtlage Russlands enorm. Trotzdem können wir nicht von einer strategischen Niederlage Russlands sprechen. Präsident Wolodymyr Selenskyj muss seine Bevölkerung und seine Armee motivieren, weiterzukämpfen. Dafür sind solche Aussagen hilfreich. Aber das entspricht eben nicht der realen Situation "on the ground".

Erich Vad ist ehemaliger General und Ex-Berater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel.
(Foto: ntv)
Das klingt aus ukrainischer Perspektive nicht so gut.
Aber es ist so. Aktuell laufen wir Gefahr, Russland zu unterschätzen. Die russischen Truppen besitzen eine deutliche militärische Dominanz auf dem Boden sowie in der Luft.
Jetzt sollen, um zum Anfang des Gesprächs zurückzukommen, EU-Gelder für mehr Waffen fließen. Wie schätzen Sie die Chance der Ukraine ein, mithilfe der Waffenlieferungen einen militärischen Sieg zu erzielen?
Derzeit bestimmen die Russen, wo als nächstes zugeschlagen wird. Die einzige Chance der Ukrainer besteht darin, die Dauer des Konflikts zu verlängern, die Kosten für die Russen hochzutreiben und sie abzunutzen. Am Ende kann das zum Sieg führen. Oder sagen wir besser, dazu, nicht zu verlieren.
Nicht zu verlieren?
Letztendlich sollte das Ziel sein, dass wir am Ende wieder zu einem Waffenstillstand kommen. Dazu gehört, dass wir diesen Krieg irgendwann beenden und nicht auf den Sieg einer Seite setzen. Das ist der völlig falsche Ansatz. Es geht darum, den Ukrainern zu helfen und wir unterstützen sie natürlich auch massiv. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Russland eine Nuklear-Macht ist, mit den meisten Nuklear-Waffen weltweit. Daher muss letzten Endes eine politische und keine militärische Lösung gefunden werden.
Also müssen wir die Ukrainer militärisch unterstützen, damit die Russen irgendwann an den Verhandlungstisch kommen und bereit sind, über einen Waffenstillstand oder ein Ende des Krieges ernsthaft zu verhandeln?
So sehe ich das.
Mit Erich Vad sprach Tilman Aretz
Quelle: ntv.de