Politik

Wieduwilts Woche Wir ziehen die Gemütlichkeit jetzt durch!

Ab jetzt nur noch besinnlich, verflixt noch mal!

Ab jetzt nur noch besinnlich, verflixt noch mal!

(Foto: picture alliance / Zoonar)

Weihnachten ist die Zeit der Besinnlichkeit und ein guter Moment, den eigenen Truppen noch einmal richtig einzuheizen. Ende Dezember ist es unerbittlich: "Schnauze voll" krakeelen die einen auf der Straße, "Pfefferspray" frohlocken die anderen. Fliegen beim Familienfest die Dominosteine?

Die Deutschen trudeln ins Weihnachtsfest, als hätten sie sich den vierten Glühwein im Kinderkarussell genehmigt: In eigentlich allen wesentlichen Themen zur Pandemie herrscht Kakofonie. Eine ordnende Stimme fehlt - und die Unerbittlichkeit auf allen Seiten wächst.

Wann darf man boostern? Neuerdings nach drei Monaten, sagt die Ständige Impfkommission - nachdem etliche Impfwillige noch Stunden zuvor nach Hause geschickt wurden. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bringt derweil, um den Laden ein bisschen aufzumischen, schon die vierte Impfung ins Spiel. Die Impfung halte bisher ja nicht lange, sagte mir kürzlich ein freundlicher älterer Herr, so eine vorübergehende Hilfe wolle er nicht. Früher sei das besser gewesen, bei Polio! Was sagt er wohl zur Serienimpfung?

Nächste Frage: Kommt die allgemeine Impfpflicht? Keine Ahnung, das machen die Abgeordneten, wie sie möchten, eine Regierungslinie gibt es nicht. Bei dem Thema haben die Querdenker uns anderen einiges voraus: Sie haben ihre Meinung bisher nicht geändert. Der Ethikrat findet sie dagegen nun doch gerechtfertigt. Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki bekanntlich nicht, die Rechtswissenschaftler zanken noch. Unklar, alles.

Das Diktum des Weihnachtsmanns

Und der Lockdown? Das Robert-Koch-Institut empfahl, ein bisschen maliziös, unmittelbar vor der Bund-Länder-Konferenz deutlich schärfere Kontaktbeschränkungen. Kommunikativ ungünstig sei das gewesen, knirschte Lauterbach. Der Politiker wird beim Rennen um den eindringlichsten Mahner vom eigenen RKI überholt, schön ist das nicht. Doch als Mitglied der Bundesregierung unterliegt auch Lauterbach dem Diktum des Weihnachtsmanns: Und der sagt: Jetzt machen wir’s uns gemütlich!

Gibt es denn wenigstens eine verbindende Botschaft, eine kämpferische Ansage, eine mit Verve vorgetragene Rede ans Volk? Wo bleibt die Vision für das Leben unter permanenter Unsicherheit? Fehlanzeige noch immer, die Hoffnung ruht auf der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Im Anschluss an die Ministerpräsidentenkonferenz gab es zwar einen Presseauftritt auch des Kanzlers - das war neu, bis dato lief der Informationsfluss schließlich durch das Telefon von "Bild"-Reporter Paul Ronzheimer. Doch der Termin diente gar nicht primär der Information. Es ging wohl eher um einen Wettbewerb: Wer würde stimmloser, empathiefreier und uninteressierter die Beschlüsse vortragen - Berlins neue Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey oder der neue Bundeskanzler Olaf Scholz? Ich habe in diesem Monotonie-Spektakel zunächst Scholz vorn gesehen, bin dann aber drei Stunden später mit einem Abdruck meiner Laptoptastatur im Gesicht wieder aufgewacht und muss mich deshalb eines Urteils enthalten.

Nun kann man in Deutschland das Redetalent der Mächtigen nicht kritisieren, ohne dass jemand ruft, es käme doch nur auf die Inhalte an. Das ist ein Irrglaube. Ohne Charisma, ohne guten Text als Gefäß kommt von noch so wichtigen Inhalten nichts beim Publikum an. Und die Verführer unter den Querdenkern sind meist besser in der Lage, Menschen für sich zu begeistern. Insofern ist die seelenlos-lasche Vorleserei von Scholz und Giffey nicht weniger als ein Regierungsdefizit.

Tonlos in der Reizbarkeitshölle

In der aktuellen Reizbarkeitshölle dringen die bieder heruntergestammelten Beschlüsse ohnehin nicht durch. Sie stehen im krassen Kontrast zur Tonlage in der übrigen Öffentlichkeit: Berauscht vom frenetischen Beifall der "Schnauze voll"-Fraktion im Netz, radikalisieren sich prominente und halbprominente Accounts in den sozialen Medien. Likes, likes, likes! Auch manch eine Publikation dreht weiter an der Empörungsschraube: Die "Welt" stellte kürzlich eine Presseschau mit Kommentaren zusammen und deren Chefredakteur Ulf Poschardt fragte rhetorisch, ob die vierte Gewalt überhaupt noch dazu tauge, Grundfreiheiten zu schützen. Die unterschwellige Botschaft: Alles Schlafschafe, nur wir kecken Springerleute wissen, was die da oben schon wieder aushecken!

Ähnliches gilt für andere Institutionen. Das Bundesverfassungsgericht, die Wissenschaft - aus dieser Pandemie kommt niemand ohne Blessuren heraus. Auf Argumente kommt es nicht an, sondern aufs Publikum - wenn es den Tod wünscht, senkt sich der Daumen. Es ist alles sehr römisch grad: Die Netz-Debattanten pressen sich zu Schildkrötenformationen zusammen, unbeweglich, unzerstörbar und auch ein bisschen albern.

Diese vollautomatische Selbstbeschleunigung im Empörium Internet hat einen winzigen Nachteil: Sie macht eine Umkehr schwierig. Wer immer vom eingeschlagenen Kurs abweicht, gilt als Systemversager und Fahnenflüchtiger. Donald Trump musste Buh-Rufe ertragen, als er kürzlich seine Booster-Impfung einräumte - so verletzt hat man den großen alten Mann lange nicht gesehen. Wer sich jetzt für einen Lockdown ausspricht, kann später einräumen, dass das wohl übertrieben war. Wie ist es umgekehrt? Sollten tatsächlich bald Triage-Loser ihr letztes Hüsterchen auf einem Krankenhausflur tätigen, was sagen dann jene, die mit der zerfloskelten "Freiheit" ihre Follower aufgeboostert haben? Ist nicht Ideenwettbewerb und die Möglichkeit des Irrens der eigentliche Kern der Meinungsfreiheit?

Schlagstock zur stillen Nacht

Andererseits: Die soldatische Entschlusskraft hinter den Lockdown- und Impfpflicht-Befürwortern steht den twitternden Freiheitsstatuen in nichts nach. Die bisher komplett unbekannte Grünenpolitikerin Saskia Weishaupt twitterte angesichts der Demonstrationen in München, die Polizei müsse "handeln und im Zweifelsfall Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzen. Wir dürfen ihnen kein Millimeter überlassen!".

"Im Zweifelsfall"? Stille Nacht hin oder her, aber sollte man nicht erst und allenfalls dann draufdreschen, wenn man sich einigermaßen sicher ist? Was hat die Abgeordnete aus dem Bundesparlament mit der Polizeitaktik in München zu tun? Hat die Grüne Jugend nicht kürzlich erst Pfefferspray als Polizeibewaffnung abschalten wollen? Nachdem der Begriff #schlagstocksaskia trendete, löschte sie den Tweet.

Und was machen wir völlig Unradikalen? Wir, die wir gleichermaßen keinen Bock mehr haben auf Querdenkergebrüll, Einschränkungen und Variantenwahnsinn, die nicht genau wissen, ob Impfpflicht oder Lockdown okay sind? Die wir aber zugleich nicht annehmen, dass jede Maßnahme in Wirklichkeit ein perfider Plan eines unterdrückenden Schweinesystems ist? Was tun wir, wenn wir an Weihnachten auf "die andere Seite" treffen?

Mit Querdenkern reden

Es gibt etliche Autoren, die sich Gedanken gemacht haben, wie man mit Verschwörungsgläubigen ein Gespräch hinbekommt. Da gibt es die Information der, ähem, Bundesregierung - aber diese Tipps kommen vielleicht nicht von der besten Stelle. Man stelle Fragen und vermeide das Themen-Hopping, lautet etwa der Rat der Fachfrau Ingrid Brodnig. Wertschätzend kommunizieren, auch wenn das womöglich schwerfällt. Und, nun, dass in Schweden ein Start-up auf die epochal ahistorische Idee gekommen ist, ein Impfpass-Chipimplantat zu entwickeln, das sollte man für schwierige Gespräche einmal gelesen haben.

Ob derlei Vorbereitung hilft? Beißen wir mit sardonischem Lächeln in die Dominosteine und hoffen auf die geisteslähmende Wirkung von Gans, Knödel und Glühwein. Das Jahr 2022, so viel steht fest, wird nämlich so nervig beginnen, wie das laufende Jahr endet. Vielleicht spräche sogar einiges dafür, den ganzen Jahreswechsel lieber auf den Juni zu verlegen.

Das wäre doch einmal eine wirklich kreative Corona-Maßnahme.

Quelle: ntv.de

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