
Hat die Impfungen mit dem Astrazeneca-Vakzin vorerst ausgesetzt: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(Foto: imago images/Jürgen Heinrich)
Muss Spahn Astrazeneca aus dem Verkehr ziehen angesichts möglicherweise tödlicher Risiken? Nein, er hätte anders entscheiden können, damit Vertrauen bewahren und ein erneutes großes Impfchaos vermeiden können. Denn aufgeklärte Menschen können selbst entscheiden.
Eine "reine Vorsichtmaßnahme" nennt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn seine Entscheidung, die Impfung mit dem Wirkstoff von Astrazeneca vorerst auszusetzen. Das klingt gut: Eine Vorsichtsmaßnahme ist verantwortungsvoll und wendet möglichen Schaden ab. Es klingt, als könne der Minister mit einer solchen Entscheidung nur richtig liegen, als habe es keine Alternative gegeben.
Und ja, die Meldung erschreckt. Sieben Fälle von Hirnvenenthrombosen in zeitlich geringem Abstand zur Impfung, drei Menschen sind daran gestorben. Muss man da nicht tatsächlich aus Vorsicht die Impfung erstmal stoppen, bis weitere Erkenntnisse vorliegen?
Nein, muss man nicht, denn diese "reine Vorsichtsmaßnahme" ist in Wahrheit eine Abwägungsentscheidung mit Nebenwirkungen. Sie wirkt einerseits vorsichtig, auf der anderen Seite jedoch zerstörerisch: Etwa ein Viertel bis ein Drittel der täglichen Immunisierungen fallen nun vorerst aus. Damit bremst der Astrazeneca-Impfstopp einen sehr wichtigen Bestandteil der derzeit einzigen effektiven Strategie im Kampf gegen das Corona-Virus massiv aus.
Lockdown? Massentests? Nicht effektiv.
Was hat das Land noch gegen den Erreger aufzubieten? Den Lockdown? Der R-Wert liegt bei 1,2; die dritte Welle rollt. Testen, testen, testen? Noch sind die Selbsttests kaum im Handel, von der angekündigten bundesweiten Massentestkampagne kann keine Rede sein.
Die Impfung ist tatsächlich das einzige Mittel, mit dem Deutschland derzeit Menschen sicher vor einem schweren Verlauf von Covid-19 schützen kann. Und der Impfstoff von Astrazeneca ist darin ein sehr wichtiger Baustein. Ihn komplett aus dem Spiel zu nehmen, wirft den Kampf gegen das Virus massiv zurück.
Doch hätte Spahn die Möglichkeit gehabt, der Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts nicht zu folgen? Diese Option gab es durchaus. Denn als Minister muss er politisch entscheiden, muss mögliche Auswirkungen seiner Entscheidung mit betrachten und abwägen. Die Forscher im Paul-Ehrlich-Institut tun das nicht, es ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie betrachten einen Impfstoff für sich allein, aus rein medizinischer Perspektive und geben eine Empfehlung aus exakt dieser Sicht. Was daraus anschließend gemacht wird, muss und sollte sie als Wissenschaftler nicht beschäftigen.
Doch die Politik hat die Pflicht, auch andere Parameter zu berücksichtigen. Das ist schwierig und führt oft zu Kompromissen wie den derzeitigen Lockerungen. Aus rein medizinischer Sicht können diese nur falsch sein. Die Politik hat sich aus anderen Gründen dennoch dafür entschieden.
Genauso hätte sich der Gesundheitsminister entgegen der Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts entscheiden können, zumal die Europäische Zulassungsbehörde EMA ausdrücklich an dem Präparat von Astrazeneca festhält. Beim Zulassungsprozess für die Vakzine hatte Deutschland sehr bewusst nicht das Paul-Ehrlich-Institut entscheiden lassen, sondern auf grünes Licht der EMA gewartet - mit dem Argument, dass einheitliches Vorgehen Vertrauen schafft.
Einmal Hü, einmal Hott
Wenige Wochen später folgt die Kehrtwende. Seit Montag scheint es der Bundesregierung angebracht, dass sie "im Rahmen der Risikobewertung plötzlich unabgesprochen einseitig die Strategie wechselt. So dass die EMA unmittelbar danach diesem Vorgehen widerspricht und ausdrücklich dazu auffordert, den Impfstoff weiter einzusetzen", kritisiert der grüne Gesundheitsexperte Janosch Dahmen. Einmal Hü, einmal Hott, so schafft man nicht Vertrauen, so zerstört man es.
Und das ist fatal. Denn bei der Entscheidung über das Aussetzen der Impfkampagne stand nicht die Glaubwürdigkeit der Politik auf dem Spiel. Die Frage war nicht: Impfung aussetzen oder Weiterimpfen als wäre nichts gewesen?
Die beiden möglichen Optionen waren: Impfung aussetzen oder Weiterimpfen, nachdem man die impfwillige Person individuell über derzeit noch nicht wissenschaftlich belegte aber möglicherweise vorhandene Risiken aufgeklärt hat. Die Optionen waren: Stoppen oder auf Transparenz setzen? Um dann der aufgeklärten Person die Entscheidung zu überlassen.
So übrigens funktioniert jeder seriöse Beipackzettel dieser Welt. Wahlloser Griff in den Arzneischrank - Schmerzmittel ASS, 100 mg. Die Packungsbeilage informiert: "Selten (kann mehr als 1 von 10 Behandelten betreffen) bis sehr selten (kann bis zu 1 von 10.000 Behandelten betreffen) sind auch schwerwiegende Blutungen wie z.B. Hirnblutungen, besonders bei Patienten mit nicht eingestelltem Bluthochdruck und/oder gleichzeitiger Behandlung mit blutgerinnungshemmenden Arzneimitteln berichtet worden, die in Einzelfällen möglicherweise lebensbedrohlich sein können."
Solchermaßen aufgeklärt entscheidet der Kopfschmerzgeplagte selbst, ob er das aufgeführte Risiko eingehen möchte oder nicht, das in diesem willkürlich gewählten Fall aus dem heimischen Medizinreservoir übrigens deutlich höher liegt als das Verhältnis von sieben Sinusvenenthrombosen zu 1,6 Millionen Impfungen.
Die Pille erhielt grünes Licht
Ähnlich funktioniert es bei der Antibabypille, die seit gestern für kluge Vergleiche herangezogen wird - zum einen, da auch sie in seltenen Fällen Sinusvenenthrombosen hervorrufen kann. Zum anderen, da auch die Pille gesunden Menschen verabreicht wird, so dass ethische Maßstäbe hier ähnlich hoch anzusetzen sind, wie bei einer Impfung, auf die sich ebenfalls gesunde Menschen präventiv einlassen sollen.
Das Ergebnis des Vergleichs ist bekannt: Bei Abwägung aller Risiken und Vorteile gab die Zulassungsbehörde grünes Licht für die Pille und überlässt es den aufgeklärten Frauen, sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Genauso hätte man es bei dem Impfangebot mit dem Astrazeneca-Vakzin machen können.
Vertrauensverlust ist die eine starke Nebenwirkung von Spahns Entscheidung, Chaos und Zeitverzug die andere. Am Donnerstag entscheidet die EMA darüber, ob sie ihre weiterhin geltende Empfehlung für Astrazeneca zurücknimmt oder nicht. Zunächst mal bedeutet das vier Tage Verlust in der Impfkampagne. "Wenn es ein bisschen länger dauert, ist das okay", sagt der Chef des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek. Doch leider hat er gleich zweifach Unrecht.
Denn zum einen ist Verzögerung im Kampf gegen Covid-19 für zukünftige Opfer nicht "okay", sondern tödlich. Wie tödlich die Bedrohung nochmal ist? Nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) sind in Deutschland bislang mindestens fünf kleine Kinder unter zehn Jahren an oder mit Covid-19 gestorben. Mindestens 32 Verstorbene waren in den Zwanzigern.
Weiterzuimpfen hätte Mut erfordert
Zum anderen wird es durch den Impfstopp vermutlich leider nicht "ein bisschen länger dauern", wie Cichutek es beschreibt. Selbst im günstigsten Fall, dass die Impfzentren nach der Entscheidung der EMA am Donnerstag das Vakzin wieder zur Verfügung haben, "werden wir Wochen brauchen, bis wir diese Fahrt wieder aufgenommen haben, die wir nun durch Absage von Terminen und die entstandene Verunsicherung hervorgerufen haben", sagt Gesundheitspolitiker Dahmen. Am Mittwochabend sollte der Impfgipfel zwischen Bund und Ländern der Kampagne noch einmal Schub und Struktur bringen - verschoben.
Die Liste der Länder, die eine Impfung mit dem Astrazeneca-Vakzin aussetzten, wurde in den vergangenen Tagen gefühlt stündlich länger. Hier kühl zu widerstehen, das Vakzin zu verteidigen, alle möglichen Risiken transparent zu benennen und - während die EMA untersucht - die Entscheidung in die Hände der Bürgerinnen und Bürger zu legen, hätte sehr viel Mut erfordert. Der Impfstopp war die einfachere Option. Doch ihre schädlichen Nebenwirkungen überwiegen den Nutzen.
Quelle: ntv.de