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Impfstopp für Astrazeneca Alles richtig gemacht, Herr Spahn!

Gesundheitsminister Jens Spahn steht in der Kritik - dieses Mal zu Unrecht.

Gesundheitsminister Jens Spahn steht in der Kritik - dieses Mal zu Unrecht.

(Foto: imago images/photothek)

Der Zeitpunkt, um die Impfungen mit dem Vakzin von Astrazeneca auszusetzen, hätte kaum schlechter sein können. Deutschland steht am Beginn einer dritten Corona-Welle. Doch Gesundheitsminister Spahn für die Entscheidung zu teeren und zu federn, ist zu billig. Er hatte keine Wahl.

Mit der Sieben-Tage-Inzidenz steigt auch die Ungeduld: Deutschland will endlich mehr impfen, um der dritten Welle etwas entgegenzusetzen. Der vorläufige Stopp bei den Impfungen mit dem Astrazeneca-Vakzin ist in dieser Situation ein schmerzhafter Rückschlag. Viele sind sauer - vor allem auf den Gesundheitsminister, der in ihren Augen wieder einmal jede Hoffnung auf baldige Normalität pulverisiert hat. Doch die Kritik an Jens Spahn ist (dieses Mal) unberechtigt. Dem Minister, noch vor Wochen für seine Alleingänge gescholten, wird nun seine "Vorsichtsmaßnahme" um die Ohren gehauen - interessanterweise auch von jenen, die sonst argumentieren, die Politik solle in der Pandemie doch bitte auf die Wissenschaftler hören. Nun ist auch das falsch.

Sieben Fälle von Hirnvenenthrombosen sind laut Paul-Ehrlich-Institut (PEI) inzwischen bundesweit nachgewiesen, drei davon mit tödlichem Verlauf. Man stelle sich vor, die Experten empfehlen dem Minister die vorläufige Aussetzung der Impfungen. Und der Minister macht: nichts. Allein schon juristisch hätte es die Bundesregierung offenbar in die Bredouille gebracht: Weil die Impfkampagne staatlich organisiert ist, hätten bei einer Bestätigung des Verdachts Körperverletzungsklagen gedroht. Und auch politisch wäre das Selbstmord - nicht nur für den Fall, dass sich ein Zusammenhang zwischen Impfung und Todesfall tatsächlich bestätigt. Allein der Verdacht auf ein Sicherheitsrisiko muss sowohl der Politik als auch den Kontrollbehörden genügen, um aktiv zu werden. Alles andere würde tatsächlich Vertrauen in beide Instanzen zerstören.

Gut möglich ist ohnehin, dass die Aussetzung der Impfungen nur wenige Tage dauern wird. Sollte die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) - wie erwartet - entscheiden, dass der Nutzen das geringe Risiko überwiegt, wird Spahn der letzte sein, der den Piks verwehrt. Wenn die Bürger Vertrauen haben sollen in Corona-Impfstoffe sowie Prüf- und Zulassungsverfahren, müssen sie aber auch akzeptieren, dass es Zeit braucht, um etwaige Risikofaktoren richtig zu bewerten. 82 Millionen Hobby-Virologen können das ebenso wenig leisten wie einzelne Minister oder SPD-Gesundheitsexperten. Karl Lauterbach mag die Gefahr von 1:250.000 für eine Hirnvenenthrombose als zu gering erachten, um das Vakzin von Astrazeneca nicht mehr zu verimpfen. Da hat er wahrscheinlich auch recht. Er trifft diese Bewertung aber nach wenigen Stunden als Einzelperson und nicht mit der Verantwortung für 513 Millionen Europäer.

Nur wer das Risiko kennt, kann frei entscheiden

Kritiker argumentieren, dass ja auch die neueste Generation der Anti-Baby-Pille von der EMA zugelassen ist - und das trotz eines wesentlich höheren Thromboserisikos. Doch der Vergleich hinkt. Wer die Pille einnimmt, tut dies mit dem Wissen um das Risiko. In der Regel klären Ärzte vor der Verschreibung über die Thrombosegefahr auf oder im Beipackzettel wird darauf hingewiesen. Das ist gesetzlich so vorgeschrieben - aus guten Gründen. Beim Impfstoff von Astrazeneca ist dies (noch) nicht der Fall. Grundlage jeder Einnahme von Arzneimitteln muss aber sein, dass der Einzelne frei und auf Basis aller verfügbaren Informationen entscheiden kann, ob er mögliche Nebenwirkungen in Kauf nehmen will oder nicht. Diese Freiheit hat auch die Politik nicht anzutasten. Und deshalb darf der Impfstopp auch nur vorläufig sein.

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Sollte sich ein geringes Gesundheitsrisiko - ähnlich wie bei Impfstoffen für andere Krankheiten (Masern) auch - bewahrheiten, muss das Astrazeneca-Vakzin zur Verimpfung freigegeben werden. Den Experten und der Politik obliegt es dann, über die möglichen Nebenwirkungen umfangreich aufzuklären und die finale Entscheidung, ob sie mit diesem Vakzin geimpft werden wollen, den Bürgern zu überlassen. Natürlich wäre es auch möglich gewesen, die Impfungen weiterlaufen zu lassen und parallel über den bloßen Verdacht zu informieren. Bei einer derart unklaren Datenlage wie im Moment wäre aber auch das ein denkbar unglücklicher Weg. Denn was schafft mehr Vertrauen? Eine Impfempfehlung auf Basis klarer Fakten oder auf Grundlage von Vermutungen?

Der Verdacht, dass der Impfstoff von Astrazeneca schwere Erkrankungen bis hin zu Todesfällen auslösen könnte, war in der Welt, lange bevor ihn Jens Spahn öffentlich ausgesprochen hat. Mehrere EU-Staaten hatten bereits vor Deutschland die Impfungen mit dem Vakzin oder einzelnen Chargen gestoppt. Nicht der Minister ist also verantwortlich dafür, wenn das Image des Impfstoffes nun zusätzlichen Schaden nimmt. Es sind die wenigen Erkrankungsfälle, deren Ursache noch geklärt werden muss. Eines ist jedenfalls sicher: Das Vertrauen in Astrazeneca hat schwer gelitten - unabhängig von der Entscheidung Spahns. Es wiederherzustellen, kann nur mit maximaler Transparenz gelingen. Sowohl vonseiten der Prüfbehörden als auch des Herstellers.

Quelle: ntv.de

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