Boris Palmer und das "N-Wort" Deutsche Debattenkultur erreicht nächsten Tiefpunkt


Palmer will sich nach dem Aufreger um seine "N-Wort"-Äußerungen eine Auszeit nehmen - und die Grünen verlassen.
(Foto: picture alliance / Pressebildagentur ULMER)
Die Diskussion um den Tübinger Oberbürgermeister zeigt wieder einmal: Der Austausch von Argumenten wird durch einen Schlagabtausch ersetzt. Sich zuzuhören und abzuwägen - das war einmal. Diese Art der Debatte bringt: gar nichts. Schade, denn Betroffenen von Rassismus wird so nicht geholfen.
Wenn es im schreibenden Journalismus der Bundesrepublik ein Sturmgeschütz der Demokratie gibt, dann ist es die "Titanic". Das Satire-Magazin hat es - insbesondere auf den Titeln - immer wieder geschafft, gesellschaftliche Entwicklungen oder politische Debatten in minimalistischer, aber kluger Art auf den Punkt zu bringen, gerne boshaft und bizarr überzogen. Man denke nur an "Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD)", die sich im November 1989 - eine geschälte Gurke in der Hand - über ihre "erste Banane" freute. Besser konnte man die Gutgläubigkeit unzähliger Ostdeutscher auf Wohlstand im goldenen Westen nicht aufs Korn nehmen.
Im Herbst 2003 - einer Zeit, in der das Minenfeld der "Political Correctness" noch lange nicht so kleinflächig abgesteckt war wie heute und Humor fast keine Grenzen kannte - suchte Deutschland einen Nachfolger für Bundespräsident Johannes Rau. Die "Titanic" zeigte auf dem Cover Roberto Blanco, dem ein Gedanke angedichtet worden war: "Muss es denn immer ein Mann oder eine Frau sein?" Seine Antwort: "Warum nicht mal ein N...?" Auch hier gilt: Wie hätte man besser die Realität abbilden können als mit dieser total absurden Überspitzung? Bis heute - 20 Jahre später! - gab es keine einzige Frau unter den Bundespräsidenten. Und unter den Männern, die es in das höchste deutsche Staatsamt geschafft haben, ist selbstredend kein einziger aus einer Einwandererfamilie.
Das Cover ist - Boris Palmer hin, Wokeness her - unverändert auf der Webseite der "Titanic" zu sehen. Der Gipfel des Grotesken wäre, würde es die Redaktion in "Warum nicht mal ein N-Wort?" ändern. Niemand wüsste dann mehr, wer wen veralbert. Und hier zeigt sich das, was man auch als Problem sehen kann: Es geht inzwischen allein um das Wort und schon lange nicht mehr um den Kontext, in dem es fällt, ob es 2003 auf dem Cover der "Titanic" stand oder vor Jahrzehnten in einem Kinderbuch genannt worden ist.
Wenn die Reproduktion den Skandal überdeckt
Auch Annalena Baerbock hat es erlebt, als sie Kanzlerkandidatin der Grünen war. In einer öffentlichen Veranstaltung des Zentralrats der Juden erzählte sie vom Erlebnis des Sohnes einer Bekannten. Der Junge hatte sich ihren Aussagen zufolge geweigert, in der Schule ein Blatt zu beschreiben, auf dem das Wort "N…" stand. Daraufhin habe das Kind Ärger bekommen, es störe den Schulfrieden. Die heutige Außenministerin erzählte die Geschichte, um diskriminierende Bildungsinhalte und einen offensichtlich rassistischen, mindestens aber verpeilten Lehrer anzuprangern.
Nur machte sie den Fehler, "N..." auszusprechen. Und schon war der Teufel los, die gesammelte Linke drosch verbal auf Baerbock ein, bei der man getrost vermuten kann, dass sie keine Rassistin ist. Schon, dass es ihr rausrutschte, reichte allerdings, einen Shitstorm zu entfachen, so dass sie bald twitterte: "Leider habe ich in der Aufzeichnung des Interviews in der emotionalen Beschreibung dieses unsäglichen Vorfalls das N-Wort zitiert. Das war falsch und das tut mir leid. Denn ich weiß ja um den rassistischen Ursprung dieses Wortes und die Verletzungen, die Schwarze Menschen unter anderem durch ihn erfahren."
Der diskussionswürdige(re) Skandal aber steckte in ihrer Erzählung. Niemand unter den Empörten würdigte den Mut des Jungen oder stellte Fragen, was an der Schule falsch lief, dass Kinder eine Bildergeschichte unter dem Stichwort "N..." schreiben sollten. Nicht der Rassismus stand im Vordergrund, sondern Baerbocks "Reproduktion rassistischer Sprache". Was aus der Schule und dem Lehrer (oder der Lehrerin) geworden ist? Egal. Was zählt, ist allein, in der Stunde der Aufregung Position und Gegenposition zu beziehen: Das sagt man nicht! Sprachpolizei!
Kein Spielraum für Verständnis
Politische Konzepte, was falschläuft, wie Rassismus an Schulen begegnet werden kann, spielten in der hyperventilierenden Öffentlichkeit der sozialen Medien überhaupt keine Rolle. Wie immer in jüngerer Vergangenheit dominierte das Bekenntnis, auf der richtigen Seite zu stehen. Der feste Glaube, mittels Sprache die Welt zu verbessern - die USA müssten inzwischen ein glänzendes Beispiel der Verständigung aller Hautfarben und Religionen sein - zählt. Ob das hilft, ist fraglich. Wo immer "N-Wort" geschrieben oder gesagt wird, entsteht automatisch die Assoziation mit dem Begriff, der vermieden werden soll und den ohnehin niemand mehr sagt, der darauf Wert legt, Menschen dunkler Hautfarbe nicht zu beleidigen.
Darauf hat auch Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, verwiesen - eine Meinung unter vielen. Auch ihm muss man glauben oder sollte es wenigstens versuchen, dass er Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe nicht verachtet oder erniedrigt, also diskriminiert. In seiner Eitelkeit, die Züge von Narzissmus trägt, hat er Gleiches mit Gleichem vergolten und sich auf das mickrige Debattenniveau der Demonstranten begeben, die ihn als "Nazi" beschimpft hatten - ein abstruser Vergleich. Daraufhin sagte er: "Das ist nichts anderes als der Judenstern. Und zwar, weil ich ein Wort benutzt habe, an dem ihr alles andere festmacht. Wenn man ein falsches Wort sagt, ist man für euch ein Nazi. Denkt mal drüber nach."
Nachdenken? Viel zu gefährlich, seinen Standpunkt und damit Halt im Leben zu verlieren. Lieber wird der Austausch von Argumenten durch einen Schlagabtausch mit Schlagwörtern ersetzt. Sich zuzuhören und abzuwägen: Das war einmal. Diese Art der Diskussion bringt nichts. Das Verharren auf dem eigenen Standpunkt, bejubelt von der eigenen Gefolgschaft, die es sich gemütlich in ihrer Blase der Selbstbestätigung eingerichtet hat, nimmt jeden Spielraum für Hin- und Zuhören oder gar gegenseitiges Verständnis, auch wenn man die Meinung des Gegenübers am Ende nicht teilt.
Auf die Ruhe folgt der nächste Empörungssturm
Auch so etwas wie die sprachliche Mitte geht zunehmend verloren. Der Präsident der Goethe-Uni in Frankfurt/Main, Enrico Schleiff, verwahrte sich mit Blick auf Palmers abgehobenen und deplatzierten Judenstern-Vergleich gegen "jede explizite oder implizite den Holocaust relativierende Aussage". "Nazis", "Rassismus", der Gebrauch des Wortes "N…" und "Holocaust-Relativierung" - mehr Potenzial für Empörung gibt es kaum. Da gibt es auf beiden Seiten kein Halten mehr, wird überzogen und übertrieben. Wem ist damit geholfen? Niemandem, schon gar nicht den Leuten, die täglich Rassismus erfahren.
Diese Pseudodebatten, bei denen Schlagzeilen (Eklat!), aber nichts Produktives herauskommt, enden gewöhnlich mit einem Kotau des Auslösers samt der Aussage: "Ich habe verstanden." Kommt die Entschuldigung wie bei Palmer von links, wird sie begleitet von den genauso ins Nichts führenden Reflexen im politisch rechten Lager, wie sie gerade wieder zu erleben sind. Da ist von Selbstzensur und Sprachpolizei die Rede und dass "der grün-rote Mainstream" angeblich den tapferen Herrn Palmer "hingerichtet" habe.
Was bleibt also von dem "Eklat"? Die Grünen sind ihren Sarrazin/Maaßen los. Palmer schweigt vermutlich eine Weile in der Öffentlichkeit, was nicht gut ist, da er gewählter Bürgermeister ist und wir eine Demokratie sind, in der jeder sagen kann, was er für richtig hält. Aber nun ist erst einmal Ruhe an der Rassismus-Front - bis wieder jemand laut "N…" gesagt hat.
Quelle: ntv.de