
Bei einer Corona-Demo in Hamburg.
(Foto: dpa)
Berlins Innensenator verbietet die Corona-Proteste in der Hauptstadt. Das ist zwar nachvollziehbar, letztlich aber kontraproduktiv. Geisel bestätigt so die Radikalsten unter den Kritikern der Pandemie-Maßnahmen.
Einige tausend Menschen müssen ihr Wochenende umplanen. Die Proteste gegen die Corona-Politik der Bundesregierung am kommenden Samstag in Berlin dürfen voraussichtlich nicht stattfinden. Innensenator Andreas Geisel hat ein Verbot verhängt und der SPD-Politiker fühlt sich offenkundig von den Juristen seines Hauses ausreichend gut beraten, dass das Verbot auch vor Gericht Bestand haben wird. Ob er mit der Entscheidung auch politisch gut beraten ist, ist hingegen fraglich.
Auf den ersten Blick ist Geisels Entscheidung gut begründet. Die Organisatoren der Querdenken711-Versammlung und ihre Teilnehmer hatten am 1. August ihre Ablehnung der Hygienemaßnahmen hinlänglich unter Beweis gestellt - indem sie die Vorgaben ignorierten. "Masken? Abstand halten? Nicht mit uns!", demonstrierte die Mehrheit der nach Polizeiangaben 20.000 Teilnehmer.
Wer soll den Anmeldern der für das kommende Wochenende geplanten Versammlungen glauben, dass es diesmal anders wird? Geisel tut es jedenfalls nicht. Das Grundrecht auf Unversehrtheit des Lebens schätze er in der Abwägung deshalb höher als das der Versammlungsfreiheit, erklärte er. Der Innensenator will zudem verhindern, dass "Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten (...) unser System verächtlich machen".
Beide Argumente überzeugen nicht vollends. Auch wenn die wieder gestiegenen Ansteckungszahlen Grund zur Besorgnis geben: Das Infektionsgeschehen in Deutschland ist unter Kontrolle. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die vielen Hygieneverstöße in Berlin vor bald vier Wochen einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hatten. Es war nun mal eine Versammlung unter freiem Himmel.
Das heißt nicht, dass die Hauptstadt Massenveranstaltungen mit mutwilligen Hygieneverstößen hinnehmen muss. Selbstverständlich müsste die Polizei unter hohem Personalaufwand im Vorfeld festgelegte und sinnvoll verschärfte Versammlungsauflagen durchsetzen. Das kostet Ressourcen und bedeutet für die Beamten eine gewisse Gesundheitsgefährdung. Doch das gilt auch für die in Berlin regelmäßig stattfindenden Demonstrationen von zum Teil gewaltbereiten Links- und Rechtsextremen. Diese mögen sich nun auch unter den Corona-Demonstranten wiederfinden - vor allem die extreme Rechte wittert Chancen in der neuartigen Protestbewegung. Weit überwiegend handelt es sich bei den Corona-Demonstranten aber nicht um gewaltaffine Extremisten, deren Versammlungsrecht der Innensenator richtigerweise sonst auch verteidigt. Das Risiko für die Unversehrtheit des Lebens ist mithin überschaubar.
Der zweite Kritikpunkt an Geisels Argumentation: Die Demokratie kann und muss Verächtlichmachungen aushalten, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Diese Leidensfähigkeit zeichnet freie Gesellschaften aus. Sie ist eines der besten Argumente der Demokratie gegen all die "Diktatur"-Schreihälse. Deren Erzählung nämlich bedient Geisel nun ungewollt. Es wäre klüger gewesen, Selbstbewusstsein zu zeigen. Der Erfolg der Corona-Maßnahmen fußt darauf, dass die breite Mehrheit sie aus innerer Einsicht in die Notwendigkeit befolgt. Wäre es anders, ließen sich die Regeln nicht durchsetzen.
Der Anteil der radikalen Corona-Maßnahmen-Kritiker an der Gesamtbevölkerung ist zwar stabil und durchaus relevant, aber doch gering. Soweit bekannt, wären am kommenden Wochenende nicht mehr Teilnehmer gekommen als vier Wochen zuvor. Außerhalb der Ferien und bei Regen wären es vielleicht sogar weniger gewesen. Es ist schade, dass die Demonstranten das nicht selbst erleben werden - und sich nun stattdessen in ihrem Selbstbild der Unterdrückten suhlen dürfen. Es wäre bitter, wenn sie sich dadurch weiter radikalisieren.
Quelle: ntv.de