Appell an Habeck Von Greta lernen heißt siegen lernen
15.10.2022, 09:22 Uhr
Greta Thunberg am vergangenen Freitag beim einem Schulstreik für das Klima in Stockholm teil.
(Foto: dpa)
Wir brauchen massenweise klimafreundlichen Strom, um das Angebot zu erweitern, die Preise zu senken und die Kohlekraft zu verdrängen. Atomkraft kann dabei helfen. Die Grünen sollten auf Greta Thunberg hören und auf die FDP zugehen.
Die Aufregung war groß über die Aussagen von Greta Thunberg zur Atomkraft. Plötzlich zitierten die Schwedin jene Politiker, die die Ikone der Klimaschutzbewegung vorher als krankes kleines Mädchen abgekanzelt hatten. Es war einfach zu verlockend, mitten in der Debatte über die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke die Grünen mit einem Greta-Zitat vorführen zu können.
Dabei hatte Thunberg nichts Sensationelles gesagt - und auch nichts Neues. Schon 2019 hatte sie geäußert, dass die Nutzung der CO2-armen Kernenergie neben den Erneuerbaren Energien zum Klimaschutz beitragen könne. Auch damals gab es große Aufregung: Grüne waren entrüstet über Thunbergs Verstoß gegen die Bannliste verwerflicher Technologien, Atom-Lobbyisten freuten sich über den unerwarteten Rückenwind.
Damals wurde Thunberg von ihrem Umfeld zurückgepfiffen und relativierte, sie persönlich fände die Atomkraft zu gefährlich. Die Anti-AKW-Bewegung war zufrieden. Die Klimabewegung nutzte die kurze Irritation nicht, um den Elefanten im Raum der deutschen Energiewende zu diskutieren: den jahrelang ignorierten Zusammenhang von Atomausstieg und Fossil-Abhängigkeit. Denn wer die Atomkraft abschafft und die Stromversorgung auf unstete Erneuerbare umstellt, ist auf eine Netzabsicherung durch planbare Erzeuger oder Speicher angewiesen.
In Deutschland erledigten diesen Job heimische Braunkohle, importierte Steinkohle und Erdgas - davon gut die Hälfte aus Russland. Zwar gelang es, den Fossil-Anteil an der Stromerzeugung langsam abzusenken, aber eben viel zu langsam für die Erreichung der Pariser Klimaziele, auf welche die Bundesregierung sich 2015 verpflichtet hatte. Hätte man auf den Atomausstieg verzichtet und klimafreundliche AKW mit den hochlaufenden Erneuerbaren gekoppelt, wäre es anders gelaufen.
Drei Dinge kann man von Greta lernen
Doch dieser Denkarbeit mochten sich weder die Grünen noch die Klimabewegung unterziehen. Denn das hätte einen Abschied vom Tabu Atomkraft bedeutet, das die grüne Partei zusammenhält. Also baute man sich eine Klimastrategie rund ums Gas: 40 Gigawatt neue Gaskraftwerksleistung sollte nach dem Kohleausstieg für die Absicherung der Erneuerbaren Energien sorgen.
Mit diesem Plan gingen die Grünen 2021 in ihren Wahlkampf - und gewannen. Dann haute Putins Krieg dem Projekt Gas-Backup die Stützen weg. Der Verbrauch musste runter, die Gasverstromung weg - ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als auch eine weitere Rückfallposition der Energiewende wegbrach, nämlich das stillschweigende Vertrauen auf französische Atomstromlieferungen. Die aber bleiben derzeit aus, weil die französische Reaktorflotte von Wartungsrückständen geplagt ist. Natürlich erlebt das Nachbarland gerade ein Debakel. Aber ist das ein Problem der Kernenergie oder eines Frankreichs?
Nun erweist sich das deutsche Energiewendemodell als nicht krisenfest. Deutschland holt Kohlekraftwerke aus der Reserve, die Ampel zeigt mit dem Finger auf andere. Natürlich sind die bürokratischen Hürden beim Ausbau der Erneuerbaren ein Erbe der Vorgängerregierungen. Aber stammt nicht das Grundkonzept von Rot-Grün, saß die SPD nicht einen Großteil dieser Zeit mit an den Schalthebeln?
Es ist also an der Zeit, im zweiten Anlauf von Greta Thunberg zu lernen. Lernen kann man von ihr drei Dinge: die pragmatische Abwägung, die aussagt, dass die Risiken der Kernkraftwerke winzig sind im Vergleich zu jenen der Kohleverstromung. Die Doppelstrategie, die besagt, dass man Erneuerbare ausbaut und Kernkraftwerke nutzt, um Kohlekraft loszuwerden. Lernen kann man überdies die Fokussierung auf ein Ziel, statt das Festklammern an den Mitteln - oder an elf Jahre alten Entscheidungen, die nach Fukushima getroffen wurden. Inzwischen haben wir gelernt, dass der dortige Unfall auf die deutschen Kernkraftwerke gar nicht übertragbar war.
Eine Laufzeitverlängerung um mehrere Jahre ist geboten
Erneuerbare Energien sind - wie Kernkraftwerke - kein Selbstzweck. Sie sind Mittel zum Zweck. Und man kann beide erfolgreich zusammenspannen. Die deutschen AKW sind, anders als die französischen, Zuverlässigkeitsweltmeister - und sie sind überdies lastfolgefähig. Selbst die drei verbliebenen Anlagen könnten, würde man sie mit frischem Brennstoff ausstatten, viel mehr beitragen als das Wenige, das Robert Habeck ihnen zugesteht. Der Wirtschaftsminister will nur zwei statt drei Anlagen zulassen, und auch diese höchstens drei Monate im Streckbetrieb.
Habeck versucht mit aller Macht, die Bedingungen für die AKW so zu verengen, dass sie tatsächlich wenig beitragen können (oder könnten), obwohl jetzt schon klar ist, dass wir 2023 vor demselben Problem stehen werden. So sehen das auch die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Was wir brauchen, ist Masse: Massenweise klimafreundlichen Strom, um das Angebot zu erweitern, die Preise zu senken und die Kohlekraft zu verdrängen. Klima- und Versorgungssicherheit können und müssen zusammengedacht werden. Die Atomkraftwerke können dabei helfen.
Man sollte also die Kernenergie von den künstlich angelegten Fesseln befreien und sie ihren Job so machen lassen, wie es Greta Thunberg fordert: Sie sollte Kohlekraftwerke ersetzen statt ergänzen. Das kann Atomkraft aber nur, wenn statt Aussitzen und wackeligen Halblösungen endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden. Der Atomausstieg muss gestoppt werden, eine Laufzeitverlängerung um mehrere Jahre ist geboten.
Auch die drei 2021 stillgelegten Anlagen sollten nochmal auf den Prüfstand. Habeck sollte an einem Runden Tisch mit Betreibern und Reaktorsicherheitskommission die Möglichkeiten ausloten. Insgesamt könnten mit fünf bis sechs Anlagen rund 50 Millionen Tonnen CO2 im Jahr eingespart werden, das ist gut zwanzigmal so viel, wie ein Tempolimit einsparen würde. Die FDP sollte als Gegenleistung dieses Tempolimit zulassen. Das wäre eine Win-Win-Situation für die Streithähne, vor allem aber für Klimaschutz und Versorgungssicherheit.
Die Historikerin und Publizistin Anna Veronika Wendland setzt sich bereits seit Jahren für eine weitere Nutzung der Kernenergie ein. Sie hat ihre Habilitation über die "Kerntechnische Moderne" geschrieben. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Atomkraft? Ja bitte!".
Quelle: ntv.de