Psychologische Kriegsführung Wenn wer "Russophobie" erzeugt, ist es der Kreml


Ist es wirklich "Russophobie", wenn man den blutigen Krieg eines Diktators ablehnt? Wohl kaum.
(Foto: via REUTERS)
Seit jeher erzählt die russische Propaganda die Mär von der angeblichen paranoiden Angst des Westens vor allem Russischen. Dabei sind es Putin und Konsorten, die erkennbar an irrationaler "Westphobie" leiden und mit Schreckensszenarien operieren, um Furcht zu verbreiten.
Drei Wochen nach Beginn des völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine fand Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die richtigen Worte. "Es ist nicht der Krieg des russischen Volkes gegen das der Ukraine", sagte er. Migranten russischer Herkunft in Deutschland nahm er ausdrücklich besonders in Schutz. "Dass sie verunglimpft, bedroht oder gar tätlich angegriffen werden, auch das dürfen wir nicht zulassen. Auch da ist eine rote Linie."
Recht hatte Steinmeier. Denn zu der Zeit gab es Berichte über eine Vielzahl von Beleidigungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen - etwa Scheibeneinwürfe und Farbschmierereien an Restaurants - sowie Gewalt gegen russischsprechende Menschen. Michelle Bachelet, damals UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, sprach Ende März 2022 davon, dass "in einer Reihe von Ländern eine Zunahme an 'Russophobie' beobachtet wurde". Es war ein einziger Satz zu dem Thema in einem langen Statement zu Putins Gemetzel, in dem die Chilenin die Kriegsverbrechen der Russen aufzählte und unter anderem erklärte: "Seit mehr als einem Monat durchlebt die gesamte Bevölkerung der Ukraine einen lebendig gewordenen Albtraum."
Schon in jenen Tagen setzten Putin und Konsorten auf die Mär von der angeblichen "Russophobie" im Westen gegen sein Land und alles Russische. Er und seine Spießgesellen ignorierten damals wie heute sämtliche Regeln und Maßstäbe der zivilisierten Welt. Und wie jede andere Diktatur, die auf Lug und Trug beruht, bewies die Regierung in Moskau, dass für sie das Gesetz aus dem Zusammenspiel von Ursache und Wirkung nicht existiert. Die russische Botschaft in Berlin erklärte wenige Tage nach dem Einfall in die Ukraine: "Wir halten jegliche Manifestationen von Diskriminierung und Verletzungen der Rechte unserer Bürger und der russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland für inakzeptabel."
Da fehlt der Maßstab
Die Diplomaten einer Staatsführung ohne Respekt vor den Menschenrechten, ohne Skrupel und ohne Moral, die Hunderttausende Tote - auch Landsleute - auf dem Gewissen hat, die Städte mit Bombenterror tyrannisiert, plündern, vergewaltigen und verschleppen lässt und ein Nachbarland unter der Erfindung eines angeblichen "Genozids" an Russen ausradieren will, beklagte sich über Schmähungen, Farbschmierereien, Schubsereien und Mobbing. Da ist nicht der Maßstab verrutscht - wer so tickt, hat keinen.
Inzwischen gibt es so gut wie keine Polizeimeldungen mehr über Boshaftigkeiten dieser Art. Zu massiven Übergriffen sowie gar einer irrationalen oder panischen Angst vor Russen und Russischstämmigen ist es nie gekommen, jedenfalls nicht ansatzweise in einem Ausmaß, dass der Begriff der "Russophobie" gerechtfertigt wäre. Die deutsche wie alle anderen westlichen Gesellschaften auch zeigte, dass zivilisatorische Errungenschaften wie Toleranz und die generelle Ablehnung von Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung in ihr tief verwurzelt sind. Wir sind keine Barbaren. Der deutsche Rechtsstaat duldet überdies Kundgebungen von Kreml-Apologeten. Sie laufen in aller Regel - bei Bedarf unter dem Schutz der Polizei - friedlich ab. (Nebenbei: Als "Nazis" beschimpft und bedroht werden bisweilen pro-ukrainische Gegendemonstranten.)
Trotzdem wiederholen Putin, sein Außenminister Sergej Lawrow und sein Sprecher Dmitri Peskow, die wie ihr Herr und Gebieter den eigenen Hirngespinsten auf den Leim gegangen sind, immer wieder die Behauptung einer angeblichen "Russophobie". Diese Erzählung ist Teil ihrer Propaganda, um die eigene Bevölkerung bei der Stange zu halten, da Angst an den vermeintlichen Beschützer bindet, und der Desinformation, mit der hierzulande antiamerikanische Tendenzen bedient werden. Nach den Drohnenangriffen auf Moskau erklärte Peskow im russischen Staatsfernsehen mit Blick auf Deutschland und andere westliche Staaten: "Man kann Russophobie nähren, und sie nähren die Russophobie."
Irrationales Geschwätz
"Es gibt nur eine tollwütige Russophobie, der Sie sich zuwenden", bescheinigte Lawrow vergangenen Sommer beim G-20-Treffen auf Bali den anderen 19 Regierungschefs des Treffens, weil die über den Krieg reden wollten und nicht, wie es Putins Außenminister wollte, über "Schlüsselfragen der Weltwirtschaft". Im September demonstrierte Lawrow abermals vor der globalen Öffentlichkeit seinen Verfolgungswahn. "Die offizielle Russophobie im Westen ist beispiellos, das Ausmaß ist grotesk", sagte er bei der UN-Generaldebatte in New York. Mit Blick auf die USA, die EU und ihre Verbündeten meinte er: "Es ist ihnen nicht mal mehr peinlich, offen zu erklären, dass es nicht nur die Absicht gibt, unserem Land eine militärische Niederlage zuzufügen, sondern Russland zu zerstören, zu zerstückeln."
Grotesk ist: Das Nachbarland zu überfallen und komplett annektieren zu wollen, ganze Städte, lebenswichtige Infrastruktur und sogar Staudämme zu zertrümmern, um dann zu behaupten, dass die eigene Nation zerstört und zerstückelt werden soll - man muss jenseits von Gut und Böse sein, um diesen Unsinn zu verbreiten und in sich auszuhalten. Putin erklärte im Mai: "Gegen unser Mutterland ist ein echter Krieg entfesselt worden." Da kann einem schon mal der Gedanke kommen, dass im Kreml "Westphobie" umgeht.
Vor allem aber muss einem bei so viel irrationalem Geschwätz, wie es seit mehr als einem Jahr aus den Mündern von Putin und seinen Helfern zu hören ist, angst und bange werden. Zumal die Verlautbarungen permanent von offenen und verkappten Drohungen flankiert werden, Atombomben aller Art einzusetzen. Schreckensszenarien und Furcht vor einem unkontrollierbaren Krieg zu verbreiten, falls der Westen nicht dieses oder jenes tue, ist ein Mittel der psychologischen Kriegsführung des Kremls. Da Putin dem Größenwahn verfallen und ihm jedes Mittel zur Wahrung seiner Macht recht ist, gibt es durchaus Anlass zu Sorgen über noch verheerendere Entscheidungen des russischen Kriegsherrn, als ein Nachbarland zu überfallen. Wenn also jemand "Russophobie" erzeugt, dann sind es die Angstmacher im Kreml.
Quelle: ntv.de