Politik

Nach den Drohnenangriffen "Alle gingen davon aus, dass Moskau gut geschützt ist"

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Auf dem Roten Platz sind Drohnen verboten.

Auf dem Roten Platz sind Drohnen verboten.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Der Politologe Jens Siegert lebt seit dreißig Jahren in Russland. Im Interview mit ntv.de erzählt er, dass die Drohnenangriffe in Moskau Unsicherheit unter den Menschen dort auslösen. Die meisten Russen ziehen es vor, den Krieg gegen die Ukraine möglichst zu ignorieren. Zugleich nimmt die Polarisierung der Gesellschaft zu, sagt Siegert: "Die Minderheit, die den Krieg ablehnt, ist zwar etwas größer geworden. Aber gleichzeitig wächst die Gruppe derer, die für den Krieg und vor allem Putin unterstützen, noch stärker."

ntv.de: Sind die jüngsten Drohnenangriffe auf Moskau geeignet, irgendetwas an der Stimmung in Russland zu verändern?

Jens Siegert: Das zu sagen, ist noch zu früh, aber ganz persönlich war es schon ein seltsames Gefühl, am Morgen aufzuwachen, sich die Nachrichten anzuschauen und zu erfahren, dass es Drohnenangriffe auf Moskau gegeben hat. Bisher hatte ich mir - wie vermutlich die meisten Leute in Moskau - keine wirklichen Gedanken darüber gemacht, dass so etwas passieren könnte. Alle gingen davon aus, dass Moskau so gut geschützt ist, dass nichts passieren kann. Das ist jetzt nicht mehr so.

Jens Siegert, Journalist und Politikwissenschaftler, lebt seit 1993 in Moskau. Von 1999 bis 2015 leitete er das Russland-Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. 2021 erschien sein Buch "Im Prinzip Russland".

Jens Siegert, Journalist und Politikwissenschaftler, lebt seit 1993 in Moskau. Von 1999 bis 2015 leitete er das Russland-Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. 2021 erschien sein Buch "Im Prinzip Russland".

(Foto: Körber Stiftung)

Größere Schäden haben die Drohnen offenbar nicht angerichtet.

Der Moskauer Bürgermeister spricht von einer Person, die sich in medizinische Behandlung habe begeben müssen. Aber hier in Moskau wurde eine Karte verbreitet, auf der über 20 Stellen eingezeichnet sind, an denen Drohnenteile runtergekommen sind. An vielen dieser Stellen bin ich irgendwann einmal gewesen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich dadurch etwas an der Atmosphäre in der Stadt verändert. Wie genau und wie stark, das werden wir in den kommenden Tagen sehen.

Wie empfinden Sie Moskau, wenn Sie in diesen Tagen durch die Stadt laufen?

In der vergangenen Woche war ich ein bisschen im Moskauer Umland unterwegs. Da ist Sommer, Tourismus und normales Business. Vom Krieg ist praktisch nichts zu bemerken, auch in Moskau nicht. Hier und da sieht man ein "Z", dieses Zeichen der russischen Truppen in der Ukraine. Im Moskauer Umland sieht man es ein bisschen häufiger als in der Stadt selbst. Einmal ist mir ein Auto mit einer russischen Fahne begegnet, ein anderes Mal habe ich ein Auto mit der Fahne einer dieser sogenannten Volksrepubliken, Luhansk oder Donezk, herumfahren sehen. In einer Stadt rund 100 Kilometer südöstlich von Moskau, Kolomna, hatten alle Autobusse vorn im Fenster ein "Z", vermutlich auf Initiative der örtlichen Verkehrsbetriebe. Aber ansonsten merkt man vom Krieg nichts. Die Leute ziehen es vor, diesen Krieg mehr oder weniger zu ignorieren, wenn er sie nicht direkt betrifft. Das zeigen übrigens auch die Umfragen vom Lewada-Zentrum. Zum Krieg bekommen sie zunehmend Antworten wie: Das geht mich nichts an, ich will mein Leben leben, damit habe ich nichts zu tun. Tendenziell war das auch bisher schon so, aber das scheint zuzunehmen.

Wie interpretieren Sie diese Haltung? Deutet das auf schwindende Unterstützung für den Krieg oder ist das Indifferenz, die das Regime letztlich stützt?

Das Regime hat diese Indifferenz viele Jahre gefördert und fördert sie auch jetzt. Sie tun fast alles dafür, den Leuten zu vermitteln, dass dieser Krieg nicht in Russland stattfindet. Auch die Drohnenangriffe werden nicht als Teil eines Krieges bezeichnet. Das Ermittlungskomitee, eine Art russisches FBI, hat Ermittlungen wegen eines terroristischen Anschlags aufgenommen. Aus russischer Sicht ist die Ukraine gewissermaßen nicht satisfaktionsfähig. Was Russland macht, ist richtig. Und wenn die Ukraine sich wehrt, dann ist das Terrorismus.

Würden Sie sagen, dass das die in Russland vorherrschende Position ist?

Ich glaube, dass eine große Mehrheit der Menschen hier darüber gar nicht so genau nachdenkt. Sehr verbreitet ist allerdings die Ansicht, dass nicht Russland schuld ist an diesem Krieg, sondern der Westen. Das höre ich in Gesprächen immer wieder, das zeigen auch Umfragen. Nach Meinung vieler Menschen in Russland hat der Westen die Ukraine zu einem Instrument gegen Russland gemacht. Auch dahinter steht, dass die Ukraine nicht ernst genommen wird. Den Ukrainern wird keine Eigenständigkeit zugestanden, sie sind entweder vom bösen Westen verdorben worden, weil der Russland schaden will, oder aber die ukrainische Führung hat sich das Land untertan gemacht, obwohl die Ukrainerinnen und Ukrainer eigentlich nur gute Russinnen und Russen sein wollen. Dass es so etwas gibt wie ein genuin ukrainisches Interesse, die eigene Freiheit zu verteidigen, das kommt in dieser Sicht nicht vor. Aus russischer Sicht geht es nicht um die Ukraine, es geht immer nur um Russland.

Ist das nicht eine sehr koloniale Haltung?

Das ist die Haltung eines imperialen Zentrums, für das alles drumherum Teil des Imperiums und zugleich Teil des Verteidigungsringes ist. Eine der wichtigsten Erzählungen Putins und seiner Leute ist, dass die NATO Russland immer nähergekommen sei und dass das gefährlich für Russland sei - also brauche Russland einen Puffer zwischen sich und der NATO. Diese Vorstellung, im Grunde eine Fortsetzung des Kalten-Kriegs-Denkens, ist hier stark verankert.

Rein logisch kann die Ukraine allerdings nicht gleichzeitig ein Teil Russlands und ein Puffer zwischen Russland und der NATO sein.

Als Menschen leiden wir alle mehr oder weniger häufig unter kognitiver Dissonanz: Wir schaffen es immer wieder, gleichzeitig Dinge zu glauben, die eigentlich komplett unvereinbar sind. Hier ist das besonders ausgeprägt. Aus russischer Sicht sind die Ukrainer einerseits "die Unsrigen". Auf der anderen Seite sind es von Moskau ungefähr fünfhundert Kilometer bis zur ukrainischen Grenze, und von dort bis zur ukrainisch-polnischen Grenze sind es noch einmal sieben- bis achthundert Kilometer. Für Moskau ist das schon ein größerer Puffer, und das ist immer das Wichtigste: Moskau ist das Zentrum. Man kann sich das Sicherheitsgefühl der russischen Eliten vorstellen wie konzentrische Kreise um Moskau herum. Da gibt es den Kreml als eine Art Burg im Inneren, dann den Gartenring - das ist der erste Kreis. Dahinter kommt die Ringautobahn, und noch einmal dahinter die "Betonka", ein weiterer Autobahnring aus den 1970er-Jahren, der eine Betonfahrbahn hat, weil er im Wesentlichen dazu diente, dass dort Panzer transportiert wurden.

Werden Sie als Deutscher auf die Waffenlieferungen der Bundesrepublik an die Ukraine angesprochen?

Das kommt schon vor. Und dann werden diese Waffenlieferungen durchaus als feindlich wahrgenommen. Wie könnt ihr das machen, wie könnt ihr den Faschisten Waffen geben - gerade ihr, die ihr uns damals überfallen habt, die ihr wisst, was Faschisten sind? Dahinter steht folgendes Selbstbild: Wir - der russische Staat, der damals Sowjetunion hieß - haben die Nationalsozialisten besiegt, deshalb sind wir Antifaschisten, und alle, die gegen uns sind, sind Faschisten.

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Gucken Sie sich eigentlich die allabendlichen Propagandasendungen im russischen Fernsehen an?

Wir haben keinen Fernseher mehr. Ich gucke mir das an, wenn ich beispielsweise über Twitter wahrnehme, dass dort jemand etwas gesagt hat, dass man sich mal ein bisschen ausführlicher anschauen sollte. Man muss ja ein Gefühl dafür bekommen, was die da erzählen. Das ist zwar Propaganda. Aber es ist Propaganda, die etwas aussagt über die Intentionen des Regimes.

Ist meinungsbildend, was in diesen Sendungen gesagt wird?

Was da passiert, ist schon Extremsport, da geht es ums Aufputschen der Öffentlichkeit, auch darum, den Leuten Angst zu machen. Diese Fernsehshows haben etwas katastrophisches, fast apokalyptisches, dort wird ständig beschworen, der Westen wolle Russland zerstören oder zerstückeln, und um das zu verhindern, habe Russland seine Atomraketen, die in vier Minuten Berlin und in sechs Minuten London erreichen können, wie immer wieder betont wird. In diesen Sendungen wird die Stimmung erzeugt, die Existenz des Landes sei in Gefahr, so dass die Leute sich um ihren Führer scharen, weil ja nur er das Land schützen könne. Wenn man sich die Lewada-Umfragen ansieht, dann funktioniert das tatsächlich ganz gut. Seit Anfang des Jahres sieht Lewada eine zusätzliche Konsolidierung in der Haltung zu diesem Krieg. Es gab vorher schon eine relativ große Zustimmung, aber die hat seither noch zugenommen. Lewada sagt, dass die Grautöne verschwinden: Die Leute, die unentschieden sind, die sich nicht äußern wollen oder die differenziertere Meinungen vertreten, die werden weniger. Die Minderheit, die den Krieg ablehnt, ist zwar etwas größer geworden. Aber gleichzeitig wächst die Gruppe derer, die für den Krieg und vor allem Putin unterstützen, noch stärker. Es findet also eine noch stärkere Polarisierung der russischen Gesellschaft statt mit einem großen Pol um Putin und einem viel kleineren Pol um die Kriegsgegner.

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin sorgt mit seinen öffentlichen Äußerungen im Westen immer wieder für viel Aufsehen. Welche Bedeutung hat Prigoschin für die russische Öffentlichkeit?

Das ist schwer zu sagen. Ich gehe davon aus, dass Prigoschin keine eigenständige Figur ist, auch wenn er sich im Moment als jemand geriert, der, wenn man ihn nur ließe, alles richtig machen würde. Eine gewisse Legitimität erhält er in Russland sicher durch die vielen Toten in den Reihen der Wagner-Söldner. Dadurch wirkt es so, als habe Wagner beziehungsweise Prigoschin sich wirklich für das Land eingesetzt. Und diese Toten dürfen ja nicht umsonst gewesen sein. Auf der anderen Seite: Es gibt hier keine Volksbewegung. Was Prigoschin macht oder auch diese Propagandashows - in gewisser Weise sind das nur virtuelle Veranstaltungen. Hier geht niemand auf die Straße, um Prigoschin zu unterstützen. Um eine Gefahr für Putin darzustellen, müsste Prigoschin entweder eine Art Volksbewegung initiieren, oder er müsste Verbündete in den Apparaten finden, vor allem bei den Sicherheitsdiensten. Für beides sehe ich keinerlei Anzeichen, im Gegenteil: Die Sicherheitsapparate sind ja gerade ständiges Ziel von Prigoschins Kritik.

Sie legen in Debatten auf Twitter immer Wert auf die Feststellung, dass das Putin-Regime nicht faschistisch ist. Warum?

Weil es keine Massenbewegung gibt - weder für Prigoschin noch für Putin. Die faschistischen Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden aus Massenbewegungen, die sich als anti-elitär verstanden. In Russland dagegen wird Bewegung entweder imitiert oder unterdrückt. Es hat Versuche gegeben, Unterstützungsbewegungen für Putin zu inszenieren. Nach den Protesten 2011/2012 beispielsweise wurde hier eine "Volksfront" gegründet. Die gibt es immer noch, aber die ist nie mehr geworden als ein Beamtenklub. Da engagieren sich Leute, die im System Karriere machen wollen. Eine Volksbewegung war das nie. Was wir hier haben, ist eine brutale, menschenverachtende Diktatur, die einen Krieg führt und Kriegsverbrechen begeht, aber das ist aus meiner Sicht nicht faschistisch.

Haben Sie eine Theorie, wer hinter den Drohnenangriffen steckt?

Ich kann mir eigentlich nur vorstellen, dass die ukrainische Armee dafür verantwortlich ist. Wer sollte sonst dazu in der Lage sein? Für die ukrainische Armee könnte dieser Drohnenangriff dazu dienen, dass die Russen Teile ihrer Luftabwehr von der Front abziehen und zurück nach Russland bringen müssen. Das würde auch die S-300 betreffen, eines der wichtigsten russischen Luftverteidigungssysteme, …

die in der Ukraine für Angriffe auf Städte eingesetzt wird.

Und natürlich lösen die Drohnenangriffe auch Unsicherheit unter den Moskauern aus. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die öffentliche Meinung sich drehen würde, wenn Drohnen tatsächlich einmal für schwere Schäden sorgen, wenn sie in Wohnhäuser einschlagen und Menschen sterben. Die Mehrheit der Russen würde wohl sagen: Das sind halt Faschisten, genau wie Putin sagt.

Mit Jens Siegert sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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