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20 Luftangriffe in einem Monat Kiewer müssen sich entscheiden: Keller oder Zwei-Wände-Regel?

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Die U-Bahnhöfe in Kiew, die fast alle als Luftschutzkeller dienen, sind wieder so voll wie schon lange nicht mehr.

Die U-Bahnhöfe in Kiew, die fast alle als Luftschutzkeller dienen, sind wieder so voll wie schon lange nicht mehr.

(Foto: AP)

Die meisten Luftangriffe auf Kiew finden nachts statt. Wenn die Russen doch mal am Tag angreifen, fühlt sich das allerdings nicht besser an. Der Gang in den Luftschutzkeller oder den U-Bahnhof gehört längst wieder zum schrecklichen Alltag.

Die ukrainische Hauptstadt Kiew, die inzwischen wieder mehr als drei Millionen Bewohner zählt, hat im russischen Angriffskrieg bisher zwar ein besseres Schicksal erfahren als etwa das südukrainische Cherson, das viele Monate unter Besatzung erleben musste und nun täglich von russischer Artillerie beschossen wird - und natürlich erging es Kiew sehr viel besser als Städten wie Bachmut und Sewerodonezk, die im Laufe der Kämpfe de facto vernichtet wurden.

Doch während im Westen manchmal der Eindruck herrscht, als finde in Kiew seit dem Abzug der russischen Bodentruppen aus den nördlichen Vorstädten im Frühjahr 2022 wieder ein halbwegs normales Leben statt, bleibt die Hauptstadt in Wirklichkeit stets die so gut wie am meisten vom Krieg betroffene Stadt, die nicht nahe der Front liegt.

Bereits seit mehr als einem Monat erlebt Kiew eine bisher ununterbrochene Welle der russischen Luftangriffe, die Stand jetzt zusammengerechnet 20 Angriffe zählt. Dabei wird die ukrainische Hauptstadt so gut wie mit allem beschossen, was Putins Luftstreitkräfte zur Verfügung haben: Kampfdrohnen iranischer Herkunft, Marschflugkörper, ballistische Raketen der Klasse Iskander oder die sogenannten Hyperschallraketen vom Typ Kinschal, die tatsächlich als aeroballistische Raketen bezeichnet werden sollten. Aber auch zuvor hatte Kiew höchstens im Sommer 2022 etwas Ruhe. Denn bei den großangelegten Angriffen gegen die ukrainische Energieinfrastruktur im Herbst und im Winter stach die Hauptstadt im Vergleich zu anderen Regionen vielleicht etwas weniger hervor als bei der aktuellen Welle. Kiew war jedoch auch damals das Hauptziel der Angriffe.

Die meisten Angriffe finden nachts statt

Zwischen dem Ende der Schläge gegen die Versorgung mit Strom und Wärme Mitte März und den aktuellen Angriffen lagen nicht einmal anderthalb Monate. Was die Menschen nun erleben müssen, sind schlaflose Nächte, in denen im eigenen Zuhause oft alle Wände und Fenster zittern, während man die ukrainische Flugabwehr gegen die russischen Flugobjekte kämpfen hört. 19 der 20 Angriffe fanden tief in der Nacht statt, in der Regel im Zeitraum zwischen 2 und 5 Uhr. Allerdings: Als Kiew am Montag gegen 11 Uhr bei Tageslicht an einem Arbeitstag mit ballistischen Raketen angegriffen wurde, fühlte sich das nicht besser an, im Gegenteil. Denn die verwendeten Iskander-Raketen sind meist so schnell da, dass sie schon kurz nach den Sirenen des Luftalarms auftauchen. Auf den Straßen der Stadt spielten sich am Montag daher Szenen ab, die man eigentlich nur aus Katastrophenfilmen kennt: Viele Menschen rannten in Panik in Untergänge und Keller.

Einige Geschäfte und Restaurants, die Luftalarme bisher eher ignoriert hatten, haben sich seither entschlossen, für die Zeit des Alarms denn doch zu schließen. Auch die U-Bahnhöfe, die fast alle als Luftschutzkeller dienen, sind aktuell wieder so voll wie schon lange nicht mehr. Doch nicht alle Luftschutzkeller sind so verlässlich wie die U-Bahn-Stationen. Viele Gebäude mit entsprechenden Kellern sind in Privatbesitz. Und in öffentlichen Kellern ist man häufig von den Wächtern abhängig, die den Kellerschlüssel haben.

Klitschko in der Kritik

So kam es in der Nacht auf den Donnerstag zu einem tragischen Vorfall, als Kiew wieder beschossen wurde, überwiegend mit ballistischen Raketen Iskander-M. Die Trümmer einer abgefangenen Rakete fielen auf eine Poliklinik, in der sich ein Luftschutzkeller befindet. Eine Mutter wollte sich dort mit ihrer elfjährigen Tochter in Sicherheit bringen, kam aber nicht rein, weil die Tür zu war. Beide starben in Folge des russischen Beschusses. Anwohner berichteten später, dass der zuständige Wärter alkoholabhängig sei. Angeblich war es nicht der erste Vorfall, bei dem er es nicht schaffte, den Keller zu öffnen. Der Mann wurde vorerst von der Polizei festgenommen.

Ein Einzelfall ist das nicht. In den vergangenen Wochen berichteten viele Kiewer über geschlossene Keller, worauf auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer seiner täglichen Ansprachen vor rund einer Woche aufmerksam machte und die Stadtführung dafür kritisierte. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko steht wegen des neuen Vorfalls in der Kritik, bei einem Besuch in der Poliklinik musste er sich am Donnerstagmorgen einige unangenehme Worte von Anwohnern anhören. Nun soll die Polizei verstärkt kontrollieren, ob die Luftschutzkeller zugänglich sind. Vermutlich werden sie in Kiew künftig grundsätzlich offen bleiben - bislang war dies nicht so, weil es einerseits Bedenken gab, die häufig frisch renovierten Räume unkontrolliert zugänglich zu halten, anderseits auch die Befürchtung, dass Obdachlose sich dort einquartieren würden.

In der Praxis ist es gerade bei den nächtlichen Luftalarmen schwierig, sich in einen Keller zu begeben. Immer mehr Menschen entscheiden sich dafür, im Flur der eigenen Wohnung zu schlafen. Die Regel, die jeder in der Ukraine kennt, lautet: mindestens zwei Wände Abstand zum Fenster, um Schutz vor Splittern zu haben, wenn die Druckwelle das Glas zum Bersten bringt. So guten Schutz wie im Luftschutzkeller bietet die Zwei-Wände-Regel aber nicht.

Andere Regionen der Ukraine sind noch weniger geschützt

Der Hauptschutz für Kiew ist seine Flugabwehr, zu dem das US-System Patriot sowie die deutsche IRIS-T gehören. Bei den letzten 20 Angriffen haben die Ukrainer nicht zuletzt mit diesen Systemen so gut wie alles abgefangen, obwohl die Belastung teils extrem war: So wurden alleine am Sonntag und Montag mehr als 110 russische Drohnen und Raketen auf Kiew abgefeuert. Zur traurigen Realität gehört aber auch, dass Zivilisten trotzdem durch abstürzende Trümmerteile sterben, was auch die beste Flugabwehr nicht immer verhindern kann.

In einer U-Bahn-Station in Kiew, Montag, 29. Mai 2023.

In einer U-Bahn-Station in Kiew, Montag, 29. Mai 2023.

(Foto: AP)

Die andere Seite der traurigen Realität: Weil rings um und in Kiew wegen der Intensität der Angriffe so viel Flugabwehr gebunden ist, kommen die Raketen und Drohnen in anderen Regionen des Landes leichter durch, auch wenn sie generell weniger beschossen werden. So gab es in den letzten Wochen empfindliche Treffer gegen Militärobjekte im westukrainischen Bezirk Chmelnyzkyj, während in Dnipro unter anderem ein Krankenhaus getroffen wurde. Vor diesem Hintergrund gab es in ukrainischen sozialen Netzwerken sogar leichte Empörung darüber, dass Kiew bei der Flugabwehr den Vorrang hat - was der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe als eine "ganz gefährliche Diskussion" bezeichnete. Fakt ist, dass die Ukraine, das flächenmäßig größte Land Europas, Unmengen an Flugabwehrsystemen braucht, um Zivilisten in jeder Ecke des Landes ausreichend zu schützen.

Quelle: ntv.de

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