Person der Woche

Person der Woche Lässt Lindner die Koalition nach Genscher-Art platzen?

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Vier desaströse Wahlniederlagen im Jahr 2022 treiben die FDP um. Nach dem Debakel in Niedersachsen wächst die Wut der Liberalen auf die Ampel. Ein Abgeordneter fühlt sich gar politisch vergewaltigt. Mancher erinnert sich an 1982.

Die Bundes-SPD kann sich über den Wahlsieg in Niedersachsen kaum freuen. Anstatt Partystimmung herrscht im Willy-Brand-Haus eher Sorge. Denn der kleine Sieg in Hannover sorgt für große Probleme in Berlin. Die Ampelregierung ist innerlich erschüttert. Offener Streit, miserable Umfragewerte und nun auch noch eine in Landtagswahlen vierfach geschlagene FDP, die in dieser Koalition existenziell bedroht wird. Die SPD-Führung weiß, dass die Lage brisant ist. "Eine ausblutende FDP könnte sich in der Regierung verhalten wie ein verwundeter Wolf", lautet eine Sorge. Die andere: "Linder könnte die Koalition bald platzen lassen - müssen." Der Ampel drohe das Ende, denn jeder wisse, dass FDP-Chef Christian Lindner zu mutigen machtpolitischen Schritten fähig ist - wie weiland 2011 als er als FDP-Generalsekretär spektakulär zurücktrat, um frei Anlauf zu nehmen für eine neue Karriere.

Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil triumphiert daher nicht, sondern schlägt Krisenrhetorik an. Im Gefolge der desaströsen Umfragewerte für alle drei Ampelparteien und dem besonderen FDP-Debakel bei den vier Landtagswahlen ruft er die Koalitionspartner zur Geschlossenheit auf. "Die Antwort ist nicht, dass wir uns beharken, sondern die Antwort ist, dass wir uns unterhaken." Man müsse zum Geist der Koalitionsverhandlungen zurückkehren, die im Zeichen eines gemeinsamen Aufbruchs gestanden hätten.

Solch düstere Worte direkt nach einem Wahlsieg sind selten - und sie verraten, wie ernst die Lage in Berlin genommen wird. Denn wenn die FDP aus Angst vor dem Untergang die Ampel vorzeitig platzen ließe, stünden bei den Koalitionsparteien die Chancen für eine Wiederwahl denkbar schlecht. Nach derzeitigen Umfragen liegt die CDU volle zehn Prozentpunkte vor der SPD, die AfD ist mittlerweile fast doppelt so stark wie die Freidemokraten. Die innere Stabilität der FDP ist zum Überlebensfaktor für die Ampel geworden.

Gelbe Karte an die Ampel

Die Stimmung bei den Liberalen ist nicht nur enttäuscht, sie ist zusehends wütend. Der Promi-Liberale und Ex-Staatssekretär Thomas Sattelberger bringt die Stimmung bei Twitter so auf den Punkt: "Mir blutet das Herz! Die Ampel-Koalition ist politische Vergewaltigung der FDP." Der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler formuliert es weniger drastisch, aber nicht minder klar: "Die Ampel-Koalition hängt wie ein Mühlstein um unseren Hals. Wir verlieren zunehmend unsere marktwirtschaftliche Glaubwürdigkeit."

Auch Lindner findet klare Worte. Sie sollen wie eine Gelbe Karte für die Koalitionspartner wirken: "Die Ampel insgesamt hat an Legitimation verloren", warnt er. Niemand könne zufrieden sein mit den Zustimmungswerten der Bundesregierung. Da seien "Verbesserungen nötig", findet Lindner.

Die Verluste von SPD und FDP würden nicht aufgewogen durch die Zugewinne der Grünen. Insofern müsse sich die Ampel insgesamt hinterfragen und umkehren. Offen stellt Lindner den bisherigen Regierungskurs infrage: "Aus unserer Sicht müssen wir über die Balance von sozialem Ausgleich, ökologischer Verantwortung und wirtschaftlicher Vernunft neu nachdenken, damit die Ampel insgesamt wieder reüssieren kann."

Macht Lindner den Genscher

Lindners Worte hören sich für Grüne und Sozialdemokraten an wie eine letzte Warnung: Entweder die Ampel wird gelber oder sie geht aus. Lindner kündigt an, dass es mit der FDP fortan ungemütlicher wird. Die FDP werde ihre Positionen "jetzt herausarbeiten und stärken". Es gehe darum, "wie wir die Positionslichter der FDP anschalten".

Für Bundeskanzler Olaf Scholz wird es also noch schwieriger, diese ohnehin auseinander driftende Koalition zusammenzuhalten. Schon bislang lieferten sich die drei Parteien offene Feldschlachten um die Richtung - wie soll das nun mit einer FDP werden, die ums schiere Überleben kämpft. Bislang konnte die FDP der eigenen Wählerschaft nur lauwarm erklären, man habe hier und da Schlimmeres verhindert. Nun aber muss die Partei aus der Defensive heraus eigene sichtbare Erfolge produzieren.

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Lindner und seine Parteifreunde haben das FDP-Trauma mit Guido Westerwelle im Hinterkopf. Westerwelle musste nach nur einer Legislatur die FDP-Implosion vom Rekordergebnis 2009 (14,6 Prozent) zum Rauswurf aus dem Bundestag 2013 verantworten, weil er der Bundespolitik kein liberales Profil verleihen konnte und sich enttäuschte Bürgerliche am Ende wieder hinter der CDU versammelten. Das muss Lindner unbedingt vermeiden.

Und so kursiert in der FDP neben der Sattelberger-Vokabel von der Ampel-"Vergewaltigung" plötzlich auch das Wort "Genscher-Wende". Mancher Liberale empfiehlt Lindner, nicht wie Westerwelle blind in den Untergang zu laufen, sondern wie Hans-Dietrich Genscher 1982 die seit 1969 regierende sozialliberale Koalition vorzeitig platzen zu lassen. Genscher kündigte dem damaligen SPD-Kanzler Helmut Schmidt die Gefolgschaft auf, weil der in der Regierung gegen seinen linken Parteiflügel kaum mehr etwas durchsetzen konnte und Deutschland als Wirtschaftsstandort in einer Energiekrise schwer litt. Die Verhältnisse ähneln sich. Und genau das macht den Ampelregenten nun Sorge - dass Lindner nicht den Westerwelle, sondern den Genscher macht.

Quelle: ntv.de

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