WM-Zeitreise - 23. Juni 1958 Als Schweden den deutschen Hass entfachte
23.06.2018, 11:07 Uhr
Während die Deutschen die Niederlage sportlich nehmen, kocht in der Heimat der Hass hoch.
(Foto: imago/Horstmüller)
Das WM-Halbfinale 1958 zwischen Deutschland und Schweden trommelt Zeitzeugen noch heute in den Ohren. Mit Megaphonen ausgerüstete Einpeitscher stachelten 50.000 Zuschauer zu überlautem Gesang an. Die Folgen? Dramatisch!
Am Abend des 23. Juni 1958 saß der Bundestrainer auf seinem Zimmer und dachte über das morgige Spiel nach. Das Halbfinale gegen Schweden bei der WM bereitete ihm Sorgen. Sepp Herberger hatte kein gutes Gefühl. Die kurzfristige Verlegung der Partie von Stockholm nach Göteborg hatte dem Übungsleiter unruhige und aufregende Stunden beschert. Nun kam er langsam zur Ruhe und ließ die bewegenden letzten beiden Tage Revue passieren.

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verbringt vor dem WM-Halbfinale unruhige Zeiten. Vor allem Trainer Herberger.
(Foto: imago/Otto Krschak)
Vorgestern war es plötzlich mit dem himmlischen Frieden in der herrlich gelegenen Unterkunft in Bjärred vorbei gewesen. Weil man am nächsten Morgen früh raus musste, hatte seine Mannschaft die Mittsommernachtsfeier schlafend im Bett verbracht - als das Team auf einmal durch das Knallen und Leuchten des Feuerwerks um Mitternacht aufgeschreckt wurde. Noch müde von der Nacht hatte die deutsche Elf schließlich am frühen Vormittag mit viel Wehmut im Gepäck ihr Quartier in Bjärred verlassen. Besonders Herberger fiel der Abschied schwer - waren ihm doch die Menschen und das Leben vor Ort ans Herz gewachsen. In dem kleinen Familienhotel war alles genauso gekommen, wie er es sich vorher erhofft hatte. Ein Hauch vom Geist von Spiez war entstanden.
Wo bitte ist hier der Trainingsplatz?
Als man gestern nach einer mehrstündigen Busfahrt endlich im neuen Quartier in Gottskär ankam und die gesamte Mannschaft bereits in den Betten lag, ließ Herberger eine Sache keine Ruhe: Wo sollte hier vor Ort denn um Himmels Willen ein Trainingsplatz sein? Auf der Hinfahrt hatte er aus dem Fenster geschaut, aber nur eine Rasenfläche erspäht, auf der das Gras zwanzig Zentimeter in die Höhe stand. Wütend rief der Bundestrainer noch am späten Abend die Herren des Organisationskomitees an, doch die konnten ihm nicht weiterhelfen. Und so setzte Herberger alle Hebel in Bewegung, damit wenigstens der einzig vorhandene Rasenplatz noch in der Nacht gemäht und gewalzt wurde. Als die Spieler am Morgen des 23. Juni 1958 aus ihren Betten stiegen, wussten sie von all den Strapazen der Nacht nichts - und ihr Trainer erzählte ihnen auch nichts davon. Nun saß Herberger erschöpft vom Tage in seinem Zimmer und dachte über das morgige Spiel nach: Das Halbfinale im Stadion von Göteborg gegen den Gastgeber Schweden.
Beobachter dieser außergewöhnlichen Partie schrieben nach der Begegnung in ihre Chroniken: "Als die Kapelle die Nationalhymnen spielte, waren ihnen die letzten Minuten friedlicher Besinnung vergönnt." Mit "ihnen" sind in diesem Fall die deutschen Spieler gemeint. Denn was sich in den 90 Minuten danach im Ullevi-Stadion von Göteborg abspielte, hatte die Welt zuvor noch nicht gesehen bzw. gehört. Knapp 50.000 schwedische Zuschauer trieben ihre Mannschaft nach vorne. Unter dem Kommando von mit Megaphonen ausgerüsteten Einpeitschern schrien die einheimischen Fans unaufhörlich ihre Schlachtgesänge in die Nacht hinaus. Die Rufe wurden von Mikrofonen eingefangen und über die Stadionlautsprecher verstärkt.
"Heja, Sverige, heja", schallte es in einer Tour durch das weite Rund. Die deutsche Mannschaft versuchte in diesem Hexenkessel die Nerven zu behalten. Und das gelang ihr im Gegensatz zum ungarischen Schiedsrichter Zsolt recht gut. Von Anfang an ließ sich der Unparteiische von der ohrenbetäubenden Stimmung im Stadion einschüchtern. Dennoch gelang es Hans Schäfer in der 24. Minute das deutsche Team mit 1:0 in Führung zu schießen. Tapfer wehrte sich die deutsche Elf gegen die Schweden und steckte auch den 1:1-Ausgleich durch Skoglund gut weg. Doch als Juskowiak in der 59. Minute die Nerven durchgingen und er für ein Revanchefoul vom Platz gestellt wurde, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Schweden die Partie für sich entschieden.
In Deutschland reagiert der Hass
Nach der 3:1-Niederlage war DFB-Präsident Peco Bauwens außer sich. Vor versammelter Journalistenschar schwor er angesichts der Ereignisse vor Ort, "dieses Pflaster nie wieder zu betreten" - er meint das gesamte Land Schweden. Auch in Deutschland regierte nach dem Ausscheiden der plumpe Hass. Die schwedische Tanzkapelle Lars-Linström-Sextett musste ihre Tour durch Deutschland abbrechen, Autos mit schwedischem Kennzeichen wurden die Reifen zerstochen und in den Restaurants strichen die Gastronomen die zuvor so beliebten "Schweden-Happen" von der Karte.
Alles das wurde aber noch überboten durch einen unglaublichen Text in der "Saar-Zeitung" - ein journalistisches Schauermärchen: "Der instinktsichere 'kleine Mann' hat aus den fanatischen 'Heja'-Rufen des aufgepeitschten schwedischen Zuschauerplebs den Grundton abgrundtiefer Gehässigkeit herausgehört, wenn nicht den Grundton eines Hasses, der sich nicht nur gegen den deutschen Fußballspieler richtet, sondern gegen die Deutschen schlechthin. Das offizielle Schweden hat hämisch zugelassen, dass rund 40.000 Repräsentanten dieses mittelmäßigen Volkes, das sich nie über nationale oder völkische Durchschnittsleistungen erhoben hat, den Hass auf uns auskübelte, der nur aus Minderwertigkeitskomplexen kommt. Es ist der Hass eines Volkes, dem man das Schnapstrinken verbieten muss, weil es sonst zu einem Volk von maßlosen Säufern würde."
Gott sei Dank reagierten Bundestrainer Sepp Herberger und sein Team bereits nach Spielschluss besonnener. Fair gratulierten Fritz Walter und Mannschaftskapitän Hans Schäfer dem Gegner. Herberger sprach hinterher von einem verdienten Sieg. Und trotz der Strapazen der letzten Tage, dem wenigen Schlaf, der zweifelhaften Schiedsrichterleistung und dem ohrenbetäubenden Lärm im Stadion suchte der Bundestrainer lieber die Schuld für die Niederlage bei sich und seinem Team. Besonders den Platzverweis hatte er dabei im Auge. Selbstkritisch sagte Herberger: "Es war nicht die Aufgabe von Juskowiak, seinen Gegner für ein Foul zu bestrafen."
Tatsächlich tritt Deutschland erst fünf Jahre später wieder zu einem Spiel in Schweden an. Die Partie in Stockholm endet 2:1 für die Gastgeber. Peco Bauwens ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Präsident des DFB. Zwölf Jahre später öffnet in Eching bei München das erste Möbelhaus einer schwedischen Kette seine Pforten. Heute Abend treffen nun die beiden Teams in Russland wieder aufeinander. Man kann sicher sein, dass es im Olympiastadion von Sotschi deutlicher ruhig sein wird als 1958 im Ullevi-Stadion von Göteborg.
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Quelle: ntv.de