Preisexplosion am Energiemarkt An der Strombörse wirkt "blanke Panik"
23.08.2022, 19:42 Uhr
Manche Versorger müssen derzeit an der Börse kaufen, um Lücken im Stromangebot zu füllen - koste es, was es wolle.
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Die Großhandelspreise für Strom und Gas schießen in vor Kurzem noch unvorstellbare Höhen. Mirko Schlossarczyk, Partner bei der Energieberatungsfirma Enervis erklärt im ntv.de-Interview, was da los ist, was das für die Verbraucher bedeutet und wie die Politik reagieren muss.
ntv.de: Wenn Sie ein Jahr zurückdenken: Hätten Sie sich Preise, wie wir sie in diesen Tagen an den Börsen für Strom und Gas sehen, überhaupt vorstellen können?
Mirko Schlossarczyk: Nein! Am Montag gab es beim Day-ahead-Preis für eine Megawattstunde an der Strombörse einen Sprung von weit über 100 Euro. Das ist deutlich höher, als der absolute Preis vor dieser Krise war. Diese extreme Volatilität zeigt die absolute Nervosität, die den Markt erfasst hat.
Die Börsenpreise für Gas - und in geringerem Maß auch für Strom - steigen schon länger. Seit vergangener Woche aber scheinen sie völlig verrückt zu spielen, mit nie dagewesenen Preissprüngen. Was ist passiert?
Seit spätestens seit Beginn des Kriegs in der Ukraine am 24. Februar gibt es in Europa die Sorge, dass im kommenden Winter das Gas knapp werden könnte. Zusätzlich befeuert wird dies immer wieder durch kurzfristige und unkalkulierbare Ankündigungen von Gas-Lieferunterbrechungen. Jetzt greift aber zunehmend die Angst um sich, dass es auch auf dem Strommarkt zu einem echten Mangel kommen könnte, dass die Nachfrage nicht mehr gedeckt werden könnte. Da kommen mehrere Krisen zusammen: In Frankreich sind mehr als die Hälfte der Atomkraftwerke derzeit nicht am Netz, hauptsächlich wegen Wartungsarbeiten und technischen Mängeln, aber auch wegen des niedrigen Wasserstands in den Flüssen, aus denen sie Kühlwasser entnehmen. Wegen der extremen Dürre im gesamten Alpenraum ist die Verfügbarkeit von Wasserkraftwerken außergewöhnlich gering. Diese Probleme und Krisen einschließlich der gedrosselten Gaslieferungen aus Russland kommen gerade wie unter einem Brennglas zusammen. Aber trotz allem sind Strompreise von mehr als 700 Euro pro Megawattstunde nicht mehr allein mit fundamentalen Faktoren wie dem gestiegenen Gaspreis zu erklären. Da wirken offenbar auch eine aufgeheizte Marktpsychologie und die blanke Panik von einigen Marktteilnehmern, Lieferverpflichtungen nicht nachkommen zu können.
Ist diese Angst berechtigt Ihrer Ansicht nach?
Diese extremen Risikoaufschläge, die wohl im Moment gezahlt werden, scheinen fundamental betrachtet nicht nachvollziehbar. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass es in Europa tatsächlich zu einem erheblichen Strommangel kommt. Die Situation bei den französischen Atomkraftwerken sollte sich in den kommenden Monaten wieder entspannen, genauso wie das Angebot an Wasserkraft.
Wer treibt den Börsenpreis für Energie so extrem im Moment? Ist da auch Spekulation im Spiel oder sind das Unternehmen, die sich gegen eine befürchtete extreme Energieknappheit absichern wollen?
Wer da im Einzelnen handelt, ist nicht wirklich transparent. Offensichtlich ist, dass derzeit vor allem aus Frankreich heraus viel Strom vom europäischen Markt gekauft wird. Manche Versorger stehen unter extremem Druck. Den Franzosen fehlt der Strom aus ihren Kernkraftwerken. Um ihre Lieferverpflichtungen zu erfüllen, müssen sie sich eindecken - koste es was es wolle.
Was bedeutet das alles für die Verbraucher? Wann und wie werden diese Preissteigerungen bei den Endkunden durchschlagen?
Einerseits sind diese Ausschläge an den Börsen nur eine Momentaufnahme. Versorger decken sich in der Regel über lange Zeiträume ein und nutzen dazu Absicherungsstrategien, sogenanntes Hedging. Dazu kommt, dass der Endkundenpreis vor allem bei Strom zu einem Großteil aus Umlagen und Steuern besteht. Das bedeutet, dass diese jüngsten Anstiege wohl erst im kommenden Jahr bei den Verbrauchern ankommen werden und auch nicht in vollem Umfang. Andererseits: Preissteigerungen von 2000 Prozent oder mehr im Jahresvergleich wie im Moment an der Börse werden auch für die Endkunden heftige Auswirkungen haben.
Was kann und soll die Politik in dieser Situation tun?
Völlig klar ist: Die Politik sollte die enormen Auswirkungen auf die Verbraucher zumindest teilweise abfedern. Das ist keine energiepolitische, sondern zuallererst eine sozial- und gesellschaftspolitische Frage. Die Herausforderung ist: Wie kann man die Verbraucher schützen, aber zugleich die Lenkungswirkung des Preises erhalten. Denn die oberste Priorität sollte es in Anbetracht der derzeitigen Situation und des kommenden Winters ja sein, vor allem Gas zu sparen. Wie die Gasumlage zeigt, ist das ein schwieriger Spagat: Erst erhöht die Regierung mit der Gasumlage den Preis, was zum Sparen anreizen sollte. Dann senkt sie die Mehrwertsteuer und reduziert den Sparanreiz damit wieder deutlich. Wie es nicht geht, zeigt Frankreich gerade. Dort sind die Endverbraucherpreise beim Strom gedeckelt. Während die Versorger den Strom zu Rekordpreisen einkaufen müssen, tut sich auf den Rechnungen der Verbraucher gar nichts. Sie werden gar nicht zum Sparen angehalten.
Mit Mirko Schlossarczyk sprach Max Borowski
Quelle: ntv.de