Wirtschaft

Kontroverse um neue Prognose Fehlen Deutschland viel weniger Wohnungen als gedacht?

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
In der Schwebe: Der Wohungsbau erlebt trotz des hohen Bedarfs einen dramatischen Einbruch.

In der Schwebe: Der Wohungsbau erlebt trotz des hohen Bedarfs einen dramatischen Einbruch.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Neubaubedarf pro Jahr liegt einer neuen Prognose zufolge mehrere Hunderttausend Wohnungen unter den von Regierung, Verbänden und Branchenvertretern ausgegebenen Zielen. Die Studienautoren handeln sich Kritik ein. Dabei legen sie die Messlatte für die Wohnungsbaupolitik keineswegs niedrig.

Deutschland braucht dringend mehr Wohnungen. Das ist Konsens. Seit vielen Jahren schon werden weniger Wohnhäuser gebaut, als benötigt werden. Aber wie viele Wohnungen fehlen genau? 400.000 pro Jahr, wie es sich die Bundesregierung als Neubauziel selbst gesetzt hat? 800.000 oder sogar noch mehr, wie manche Verbände und Lobbygruppen behaupten? In diesem Chor der großen Zahlen sorgt das private, auf den Immobilienmarkt spezialisierte Forschungsinstitut Empirica mit einer Studie für Aufsehen. Darin prognostizieren die Experten einen Bedarf von nur 170.000 neuen Wohnungen für Deutschland in den kommenden Jahren. Die allerdings müssten auch da gebaut werden, wo sie wirklich gebraucht würden. Denn derzeit würde ein erheblicher Teil der neuen Wohnungen "am falschen Ort" gebaut und trage nicht zur Linderung der Wohnungsknappheit bei.

In seiner aktuellen Wohnungsmarktprognose schätzt Empirica auf Grundlage der demographischen Entwicklung in allen deutschen Landkreisen und Städten den Bedarf an zusätzlichen Wohnungen bis 2045. In einem mittleren Szenario für die Bevölkerungsentwicklung nimmt das Institut an, dass in diesem und den kommenden drei Jahren in Deutschland jährlich 170.000 Wohnungen benötigt würden, in den Jahren 2028 bis 2032 nur 160.000 pro Jahr und dass ab Mitte der 2030er-Jahre der Neubarbedarf wieder leicht ansteige. Steigen oder sinken die Bevölkerungszahlen stärker, fällt der Baubedarf entsprechend höher oder niedriger aus.

Mit diesen Zahlen handelte sich Empirica heftige Kritik ein. Unter anderem der Chef von Deutschlands größtem Wohnungskonzern Vonovia, Rolf Buch, reagierte in einem LinkedIn-Post verständnislos. Die Experten sollten sich doch mal die Schlange bei einem Besichtigungstermin für eine Vonovia-Wohnung anschauen, um ihre "schlagzeilenträchtige Meldung mit der Realität abzugleichen". Die Wohnungskrise sei, so Buch, eines der größten sozialen Probleme unserer Zeit und dürfe nicht "kleingeredet werden".

"Nichts liegt uns ferner, als die Wohnungsknappheit kleinzureden", erwidert Empirica-Chef Reiner Braun im Gespräch mit ntv.de. Die Prognose seines Instituts sei keineswegs als Entwarnung zu verstehen. Es gehe darum zu differenzieren, das heißt aufzuzeigen, in welchen Regionen Neubaubedarf bestehe und in welchen aufgrund des zu erwartenden Bevölkerungsrückgangs nicht.

"Der Erfolg muss lokal gemessen werden"

Die Prognose zeigt, dass vor allem im Nordwesten und Süden Deutschlands sowie im Berliner Umland in den kommenden Jahren Bedarf an neuen Ein- und Zweifamilienhäusern bestehe. Bedarf an Neubau von Geschosswohnungen bestehe fast ausschließlich in Großstädten. Den Bedarf an neuen Wohnungen in diesen Städten und Landkreisen zu decken, ist eine Herausforderung, auch wenn es sich "nur" um 170.000 pro Jahr handelt. Denn in den Metropolen, wo die Knappheit am größten sei, seien auch die Hürden für Neubau besonders hoch, vor allem wegen des fehlenden Baulands.

Deshalb, so Braun, sei es wichtig, den Wohnungsneubau nicht an großen, globalen Zahlen auszurichten. "Der Erfolg der Wohnungsbaupolitik muss lokal gemessen werden." Auch wenn in Deutschland tatsächlich 400.000 Wohnungen oder mehr in einem Jahr gebaut würden, sage das noch nichts darüber aus, ob die Wohnungsnot in den Großstädten gemindert wurde. Denn erfahrungsgemäß entstünden viele neue Häuser dort, wo es bereits genug Wohnungen gebe. Es sei zwar verständlich, dass sich junge Familien in einer schrumpfenden, ländlichen Region ein neues komfortables Haus bauten. "Wenn dadurch junge Menschen in solchen Regionen gehalten werden, ist das ja positiv", sagt Braun. "Dieser Neubau trägt aber quantitativ nicht zur Lösung der Wohnungsknappheit in den Städten bei." Im Jahr 2022 seien 115.000 Wohnungen, fast 40 Prozent der Fertigstellungen in dem Jahr, in diesem Sinne "am falschen Ort" gebaut worden, heißt es in der Empirica-Studie.

Die von Empirica berechnete Zielmarke von 170.000 neuen Wohnungen liegt zwar weit unter dem selbstgesetzten Ziel der Bundesregierung von 400.000 Fertigstellungen jährlich, sie wird in den kommenden Jahren dennoch höchstens mit Mühe zu erreichen sein. Denn der Wohnungsbau verzeichnet aktuell aufgrund der gestiegenen Zinsen einen starken Einbruch. Das IFO-Institut etwa geht von nur 225.000 Fertigstellungen in diesem Jahr aus. Danach dürfte die Zahl weiter sinken. Wenn man annimmt, dass ein ähnlicher Anteil des Wohnungsneubaus wie in der Vergangenheit nicht dort stattfinden wird, wo er benötigt wird, dürfte am "richtigen Ort" kaum genug übrig bleiben, um die angespannten Wohnungsmärkte zu stabilisieren.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen