"Die Klimabelastung ist brutal" So viel CO2 verursachen 300.000 neue Wohnungen
14.07.2023, 14:59 Uhr Artikel anhören
Neubau programmiert die Emissionen der nächsten Jahrzehnte: "Die Zahlen zum Wohnungsbau in Deutschland beweisen, dass wir uns die Einsparungen auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2045 kaputtmachen", sagt Wohnwendeökonom Daniel Fuhrhop.
(Foto: picture alliance / Bildagentur-online/Schoening)
In den vergangenen Jahren wurde in Deutschland so viel gebaut wie seit mehr als 20 Jahren nicht. Trotzdem herrscht ein Mangel an Wohnraum. Im Gespräch mit ntv.de rechnet der Wohnwende-Ökonom Fuhrhop mit der Fixierung auf Neubau ab.
Die Lage auf dem deutschen Wohnungsmarkt ist paradox: Obwohl seit der Jahrtausendwende fünf Millionen Wohnungen gebaut wurden, herrscht immer noch Wohnraummangel. Um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden, fordert der Immobilienökonom Daniel Fuhrhop deshalb ein radikales Umdenken von der Politik. Die "Bauwut" gehe nicht nur an den Bedürfnissen der Gesellschaft vorbei, sagt der Experte ntv.de. Wegen der Klimakrise könne und wolle die Gesellschaft sich diese auch gar nicht mehr leisten.
Dramatische Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt würden immer noch schlichtweg ignoriert, kritisiert der Ökonom. Rein rechnerisch hätten die fünf Millionen Wohnungen, die seit der Jahrtausendwende gebaut wurden, Platz für fast 10 Millionen Menschen schaffen müssen. Die Bevölkerung sei in dieser Zeit gleichzeitig lediglich um gut zwei Millionen gewachsen, die 2,3 Millionen Ukraine-Flüchtlinge aus dem vergangenen Jahr bereits mit eingerechnet. Leerstand gebe es trotzdem kaum. Die Krux liege in der Nutzung des Wohnungsbestands: Immer mehr Menschen lebten heute allein und im Durchschnitt auf deutlich mehr Quadratmetern, so der Ökonom.
Auch die Ampelregierung, die in ihrem Koalitionsvertrag als Ziel den "Bau von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr" formuliert hat, um die Lage auf dem Wohnungsmarkt zu entspannen, habe das Problem weder gelöst noch zu Ende gedacht, sagt Fuhrhop. Dass die Regierung lediglich rund 300.000 neue Wohnungen pro Jahr geschafft hat, bescherte ihr Spott und Häme. Unter Klimagesichtspunkten, seien die 100.000 neuen Wohnungen, die die Politik pro Jahr schuldig geblieben sei, jedoch geradezu ein "Glücksfall".
"Neubauten sind Klimakiller"
Für seine jüngst erschienene Dissertation "Der unsichtbare Wohnraum. Wohnsuffizienz als Antwort auf Wohnungsnot, Klimakrise und Einsamkeit" machte der Ökonom erstmals eine Rechnung auf, die zeigt, wie klimaschädlich allein die 300.000 innerhalb eines Jahres erfolgreich gebauten Wohnungen in Deutschland sind. Das Ergebnis liegt ntv.de exklusiv vor.
Laut seinen Berechnungen schädigt dieser Wohnungsneubau das Klima demnach mit bis zu 74 Millionen Tonnen CO2: Diese Zahl umfasst das Bauen und den Betrieb der Wohnungen, also den Beton genauso wie das Heizen. Zum Vergleich: Der jährliche Betrieb aller 43 Millionen Privathaushalte in Bestandswohnungen zusammen, schlägt - vor allem durch Heizen - mit 80 Millionen Tonnen CO2 zu Buche. Das heißt, die Summe der Emissionen von jährlich 300.000 neu gebauten Wohnungen ist annähernd so hoch wie der Betrieb aller 43 Millionen bestehenden Wohnungen in einem Jahr.
"Die Neubauten sind Klimakiller. Die Summe an CO2 ist brutal. Ich habe nicht damit gerechnet, dass allein 300.000 Wohnungen schon so ein Desaster sind", sagt Fuhrhop. Würde die Ampelkoalition ihr Ziel von 400.000 Wohnungen tatsächlich erreichen, würde das Klima ganzheitlich betrachtet sogar mit jährlich bis zu 99 Millionen Tonnen belastet.
Bislang stützte sich die Forschung auf Angaben zum weltweiten CO2-Ausstoß. Den kursierenden Zahlen zufolge werden etwa 40 bis knapp über 50 Prozent aller Treibhausgase im Bereich Bauen und Wohnen verursacht. Acht Prozent aller weltweiten Treibhausgasemissionen gehen allein auf das Konto der Zementproduktion. Das ist doppelt so viel, wie der Flugverkehr an CO2 produziert. In absoluten Zahlen bedeutet das weltweit rund 2,8 Milliarden Tonnen Kohlendioxid jedes Jahr.
"Die Klimabelastung durch Bauen ist und bleibt verheerend. Neubau programmiert die Emissionen der nächsten Jahrzehnte", so Fuhrhop. Die neu gebauten Wohnungen müssen geheizt werden, und das geschieht noch lange nicht klimaneutral. "Den wenigsten ist klar, dass selbst bei den favorisierten Wärmepumpen der Strom gerade mal zur Hälfte aus erneuerbaren Energien stammt." Sein Vorwurf: Obwohl Bauen schlechthin ein Klimakiller ist, reduziert die Politik ihre Bemühungen immer noch auf Vorgaben zu effizienteren Heiztechniken oder Dämmungen im Wohnungsbau - statt den klimaschädlichen Bau von vorneherein zu vermeiden.
"Die brutalen Emissionen machen die Einsparungen kaputt"
Im Kampf gegen die Klimakrise hat die Ampel-Regierung ihre Politik am 1,5-Grad-Ziel ausgerichtet. Laut Klimaschutzgesetz sollen im Gebäudebereich bis 2030 jährlich im Schnitt rund fünf Millionen Tonnen weniger Treibhausgase verursacht und in der Industrie (inklusive Zementherstellung) weitere rund sieben Millionen Tonnen pro Jahr eingespart werden. Neubau führt dieses Ziel ad absurdum, wie die Daten zeigen, weil er alles, was eingespart wird, wieder auffrisst.
"Die Zahlen zum Wohnungsbau in Deutschland beweisen, dass wir uns die Einsparungen auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2045 kaputtmachen, wenn wir in dieser Größenordnung mit diesen brutalen Emissionen weiterbauen. Das geht in die entgegengesetzte Richtung", sagt Fuhrhop.

Daniel Fuhrhop ist Wirtschaftswissenschaftler und Autor. Er berät Kommunen bei der Gründung sozialer Programme, beispielsweise zur Vermittlung von Wohnpaaren nach dem Modell "Wohnen für Hilfe". Sein Fazit: Insgesamt könnten so jährlich 100.000 Wohnungen entstehen – ohne Klimabelastung und mit der Chance auf Nähe und Nachbarschaft.
Neubau allein werde auch das Wohnungsproblem nicht lösen. Die Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig ausreichend Wohnraum zu schaffen, sei eine doppelte Herausforderung. Nur drei Maßnahmen gleichzeitig führten aus dem Dilemma: anders bauen, umbauen statt neu bauen und Wohnraum schaffen ohne zu bauen. "Wir müssen darüber nachdenken, weniger zu bauen", fordert der Ökonom.
Insgesamt 100.000 Wohnungen pro Jahr, also ein ganzes Drittel des Neubaus, ließe sich durch vorhandene soziale Programme durch das Heben ungenutzten oder "unsichtbaren" Wohnraums, wie Fuhrhop es nennt, ersetzen. Zum Beispiel durch "Wohnen für Hilfe": Jüngere Leute ziehen zu älteren und zahlen keine normale Miete, sondern helfen im Garten oder im Haushalt. In Frankreich und Großbritannien bringen professionelle Vermittlungsstellen Alt und Jung zusammen. Würde man das in Deutschland genauso professionell aufziehen, könnten allein durch dieses Programm 30.000 Auszubildende und Studierende pro Jahr mit Wohnraum versorgt werden. Hier gebe es noch sehr viel Luft nach oben.
Quelle: ntv.de