Wirtschaft

Vollbeschäftigung in Russland Selbst Zwangsarbeit löst Putins Arbeitsmarktkrise nicht

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Russlands größter Autobauer Avtovaz will staatlichen Angaben zufolge Lücken in seiner Belegschaft mit Strafgefangenen schließen.

Russlands größter Autobauer Avtovaz will staatlichen Angaben zufolge Lücken in seiner Belegschaft mit Strafgefangenen schließen.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Die Lage auf dem russischen Arbeitsmarkt ist mehr als angespannt. Etliche Unternehmen suchen nach Fachkräften. Die Verzweiflung ist so groß: Sogar Strafgefangene werden inzwischen verpflichtet. Dabei stellen diese nicht nur ein enormes Sicherheitsrisiko dar, sie lösen das Problem auch nicht mal im Ansatz.

In Russland suchen etliche Firmen händeringend nach Personal. Zuletzt hat der Lada-Hersteller Avtovaz wegen des akuten Arbeitskräftemangels sogar Strafgefangene angefordert, die zu Zwangsarbeit verurteilt worden sind, um die Lücken in ihrer Belegschaft zu schließen. Notwendig ist dieser Schritt für den Autobauer vor allem aus einem Grund geworden: Auf dem russischen Arbeitsmarkt herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Im April sank die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordtief von 3,3 Prozent.

Auch wenn der Mangel auf dem russischen Arbeitsmarkt enorm ist: Alexander Libman, Osteuropa-Experte von der Freien Universität Berlin, zweifelt stark daran, dass das Vorgehen von Avtovaz viele Nachahmer finden wird. "Strafgefangene sind extrem unproduktiv und unzuverlässig. Für die meisten Firmen werden sie eher eine Belastung sein", sagt der Politologe im Gespräch mit ntv.de. Laut dem Politologen und Experten für den postsowjetischen Raum, Gerhard Mangott, gibt es außerdem gar keine gesetzliche Grundlage, die regelt, dass ein Strafgefangener von einem Privatunternehmer angeheuert werden kann. Außerdem stelle es für ein Unternehmen durchaus ein Sicherheitsrisiko dar, Strafgefangene für sich arbeiten zu lassen.

Ähnlich wie Libman geht Mangott davon aus, dass es sich bei Strafgefangenen eher nicht um hoch qualifizierte Fachkräfte handelt, wie sie vor allem in vielen Schlüsselindustrien gebraucht werden. "So positiv die niedrige Arbeitslosenquote klingt, so wenig sagt sie darüber aus, in welchen Branchen qualifizierte Arbeitskräfte fehlen", sagt Mangott im Gespräch mit ntv.de. Anstatt qualifizierte Arbeitskräfte mit Strafgefangenen zu ersetzen, sollte besser über Wege nachgedacht werden, wie emigrierte Russinnen und Russen wieder zurückgeholt werden könnten. Eine Möglichkeit, die nach Informationen des Politologen bereits in Regierungskreisen besprochen wird, ist eine Garantie, nach ihrer Rückkehr nicht mobilisiert werden zu können. "Ich glaube, ein solches Versprechen wäre sichtlich zielführender, als auf Strafgefangenen zurückzugreifen", so Mangott weiter.

Lage am Arbeitsmarkt spielt Inflation in die Hände

Zu der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt haben infolge des Ukraine-Kriegs die Einziehung Hunderttausender Männer zum Militär und die Flucht vieler anderer ins Ausland beigetragen. Schätzungen zufolge haben mehr als eine Million Russen den Arbeitsmarkt verlassen, weil sie an die Front versetzt wurden oder außer Landes gingen. Vor dem Krieg in der Ukraine lag die Arbeitslosenquote im Januar 2021 bei fast sechs Prozent. Libman betont: "Russland war bereits vor dem Krieg ein Land mit einem starken Defizit von Arbeitskräften. Die Auswanderung und die Mobilmachung haben die Situation deutlich schlimmer gemacht." Er geht davon aus, dass das Defizit der Arbeitskräfte auch langfristig ein Problem für die russische Wirtschaft bleiben wird.

Während die russische Zentralbank davor warnt, dass die Lage am Arbeitsmarkt der Inflation in die Hände spielt, verkaufen Regierungsbeamte der Bevölkerung eine hohe Beschäftigung noch immer als Zeichen einer gesunden Wirtschaft. Wie dringend dem russischen Arbeitsmarkt qualifizierte Fachkräfte fehlen, hat kürzlich auch eine Umfrage der Notenbank unter 14.000 russischen Unternehmen ergeben: Demnach ist die Verfügbarkeit von Arbeitskräften auf einen Wert von minus 18 Prozent gesunken. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 1998, wie die Zeitung "Kommersant" berichtet.

Dessen ist sich auch der russische Präsident Wladimir Putin bewusst: "Eines der wichtigsten Themen ist gegenwärtig die Überwindung des Personalmangels", zitiert die Nachrichtenagentur TASS den Kreml-Chef im April. Laut Putin müssen drei Hauptaufgaben gelöst werden, damit sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt entspannt. Erstens solle das Potenzial aus Regionen, in denen die Arbeitslosenquote noch hoch ist, genutzt werden. Zweitens könne die Wirtschaft und der soziale Sektor auf schlanke Produktions- und Automatisierungstechnologien setzen. Drittens müssten schließlich die Investitionen in die Ausbildung von Spezialisten in den gefragtesten Berufen steigen. Insbesondere sollen Ingenieurschulen ausgebaut und neue Universitäten entstehen, sagte Putin laut TASS.

Die von der Zentralbank befragten Unternehmer waren trotz des Rekordtiefs optimistisch, dass saisonale Trends in den nächsten Monaten wieder Arbeitnehmer anziehen werden. Doch auch das würde den Arbeitsmarkt nicht entlasten. Denn nicht nur die Abwanderung trägt zum aktuellen Fachkräftemangel bei. Die Arbeitslosenquote ist auch deswegen so gering, weil sich in Russland generell weniger Menschen arbeitslos melden als in westeuropäischen Ländern, da es kaum soziale Unterstützung gibt. Außerdem schrumpft die russische Bevölkerung seit Jahren.

Russland ist weit davon entfernt, ein Einwanderungsland zu sein

Die demografische Delle ist groß. Russland wird es kaum schaffen, sein Bevölkerungsniveau ohne signifikante Einwanderung aufrechtzuerhalten. Eine Studie der Higher School of Economics (HSE) in Moskau zufolge müssen nach Russland bis zum Ende des Jahrhunderts jedes Jahr eine Million neue Migranten einwandern, um das derzeitige Bevölkerungsniveau zu halten.

Mehr zum Thema

Dass Russland weit davon entfernt ist, ein Einwanderungsland zu sein, zeigen Zahlen der staatlichen Statistikbehörde Rosstat. Während nach Russland 2021 noch 430.000 Menschen eingewandert sind, waren es im Jahr 2022 nur noch 61.900. Besonders brisant an der HSE-Prognose: Die Erhebung berücksichtigt dabei nicht die enorme Abwanderung russischer Bürger nach dem Einmarsch des Landes in die Ukraine.

Laut der Einschätzung von Libman würde sich selbst durch ein Kriegsende die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht entspannen. "Langfristig wird sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt wegen der geringen Geburtenraten, die durch den Krieg noch stärker nach unten gehen, sogar verschärfen." Die aktuelle Arbeitsmarktkrise sei längst ein Dauerzustand. Anders als Putin geht der Osteuropa-Experte auch nicht davon aus, dass technologische Innovationen, die die Abhängigkeit von Arbeitskräften entschärfen könnten, die Produktivität des Landes steigern werden. Dafür seien die Sanktionen zu wirksam.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen