Wirtschaft

Zerbricht Wirtschaft am Virus? "Trotz Staatshilfen droht Entlassungswelle"

Ein "tsunamiartiger Schock" wirbelt die deutsche Wirtschaft derzeit durcheinander. Der Wachstumsmotor Automobilindustrie stottert. Dennoch hält Ökonom und Autoexperte Helmut Becker eine "Abwrackprämie 2.0" nicht für sinnvoll. Etwas anderes sei nun wichtig, sagt er ntv.de im Interview.

ntv.de: Deutschlands Grenzen sind dicht, eine Reaktion auf die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie. Laut Bundesregierung ist der freie Warenverkehr innerhalb Europas aber davon ausgenommen, funktioniert also weiter. Ist das überhaupt möglich?

Helmut Becker: Personengrenzkontrollen machen auch vor Lkw-Fahrern nicht halt. Allerdings ist Europa mit dem stark liberalisierten Schengenraum gegenüber China und den dortigen fast autonomen Provinzen klar im Vorteil. Ich denke, der freie Warenverkehr in Europa gerät ins Stottern, aber er wird nicht zum Erliegen kommen. Die Europäer kennen ihre gegenseitigen Abhängigkeiten.

Fast täglich ändert sich die Lage: Kindergärten zu, Schulen zu, Unis geschlossen, Kneipen und Bars ebenso, Messen abgesagt: Wie groß könnte der wirtschaftliche Schaden sein, den Deutschland aufgrund von Covid-19 bezahlen muss? Lässt sich das derzeit überhaupt einschätzen?

Nein, das kann keiner vorhersagen. Deutschland ist keine Insel. Das hängt davon ab, wie lange die Corona-Pandemie in der Welt anhält, wann der Höhepunkt erreicht und überschritten ist. Dann erst könnte man vielleicht absehen, wie lange die wirtschaftliche Talfahrt noch anhalten wird und wie groß die Wachstumsverluste sind. Sicher ist, dass die Wirtschaft wieder Fuß fassen wird, sobald der Höhepunkt der Corona-Krise überschritten ist und die Erkrankungszahlen erkennbar zurückgehen.

Fakt ist aber, dass der Dienstleistungssektor schwer getroffen ist.

Absolut. Dieser Teil der deutschen Wirtschaftsleistung, des Bruttoinlandsprodukts, ist auch unwiederbringlich verloren. Der lässt sich jetzt nicht horten und nach dem Ende der Krise nicht nacharbeiten, nicht nachholen. Im produzierenden Gewerbe ist das anders: Alles was jetzt gerade ausfällt, kann ich später gegebenenfalls mit Sonderschichten und Überstunden wieder hereinholen. Damit ist aber auch klar: Die Corona-Krise könnte bis zu etwa einem Drittel der Wirtschaftsleistung kosten. Je nachdem, wie lang die Corona-Krise anhält.

Wie lange, denken Sie, wird die Krise denn andauern?

Wenn es richtig ist, was Politik und Experten sagen und im schlimmsten Fall 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung vom Virus befallen werden, also über 40 Millionen Menschen hierzulande, dann ist klar: Je langsamer die Krise fortschreitet, umso besser ist es, desto länger hält sie aber auch an. Vielleicht haben wir den Höhepunkt im Sommer überschritten, vielleicht auch erst im Herbst oder Winter. Aber das sind alles nur Mutmaßungen, denn es gibt zu viele unbekannte Größen: Wann gibt es Medikamente, wann einen Impfstoff, kommt eine zweite Erkrankungswelle? Und so weiter. Momentan heißt die Devise: Auf Sicht fahren und das Schlimmste verhindern.

Deutschlands Wirtschaftsmotor ist neben den Mittelständlern vor allem die Automobilindustrie. Aber auch von dort gibt es täglich neue Hiobsbotschaften: Der VW-Absatz ist eingebrochen, der Konzern wird die Produktion in seinen meisten Werken in Deutschland und Europa für zwei bis drei Wochen aussetzen. Ford, und PSA drosseln die Produktion. Fiat Chrysler schließt Werke. Die Bundesregierung hat Hilfen zugesagt, den Zugang zu Kurzarbeitergeld bereits erleichtert. Reicht das in Ihren Augen aus? Oder muss über so etwas wie eine "Abwrackprämie 2.0" nachgedacht werden?

Zunächst muss ich die Politik einmal loben, die bisher sehr schnell auf die neuen Gegebenheiten reagiert hat. Gleichzeitig gilt aber: Alles was die Bundesregierung jetzt für die Wirtschaft im Allgemeinen und die Autoindustrie im Besonderen tun kann, ist weiße Salbe, kann die Schmerzen nur lindern, kann sie nicht heilen. Eine Abwrackprämie 2.0 wäre absoluter Unsinn, da die Verbraucher derzeit einfach andere Probleme haben, als sich ein neues Auto anzuschaffen. Die stellen sich eher die Frage nach der Sicherheit ihrer Jobs. Und da hat die Politik beispielsweise mit den Neuerungen beim Kurzarbeitergeld bereits geholfen. Derzeit werden die gesamte Wirtschaft und eben auch die Autoindustrie von einem tsunamiartigen Schock von außen getroffen, den ich in dieser Form bisher nur einmal erlebt: in der ersten Ölkrise 1973. Das war auch ein plötzlicher Schock von außen und keiner wusste, wie man darauf reagieren sollte, weil es keine Erfahrungen von früher gab. Alles war neu, so wie jetzt.

Also keine Abwrackprämie, sondern ...

Alles, was die Bazooka ebenso hergibt. Her damit! Die Bundesregierung und die Länder haben ja schon wichtige Hilfen beschlossen und auf den Weg gebracht, Stichwort: Erleichterungen beim Kurzarbeitergeld, Kredite und Überbrückungsdarlehen bis zum Abwinken und so weiter. Höchste Priorität für die Politik muss sein - klingt einfacher, als es am Ende sein wird -, den Wirtschaftskreislauf am Laufen zu halten. Am Ende des Tages sind alle finanziellen Hilfen vom Staat und der EZB an die Wirtschaft und Verbraucher hervorragend. Geld ist genügend da und es muss an breiter Front eingesetzt werden. Und wenn nicht genügend da ist, dann müssen wir es drucken! Um die Inflation kümmern wir uns dann morgen. Heute geht es darum, den Kollaps zu verhindern.

Der Branchenverband VDA fordert Absprachen von Berlin und Brüssel. Zielt das auf die in diesem Jahr angedachten verschärften Emissionsregeln, durch die der deutschen Autoindustrie Milliardenstrafzahlungen drohen?

Ja, die hat der VDA mit seiner Aussage im Blick. Das ergibt aber auch durchaus Sinn: Durch die Corona-Krise ist kein Autokonzern in der Lage, die verschärften Emissionsgrenzwerte einzuhalten. Nicht die Grenzwerte, wohl aber die daraus resultierenden fälligen milliardenschweren Strafzahlungen sollte man zumindest für dieses und auch nächstes Jahr von EU-Seite aussetzen. Damit wäre den Autobauern, Zulieferern, Mitarbeitern und am Ende auch den Verbrauchern in der aktuellen Krisensituation am meisten geholfen. Es wäre doch einfach schizophren, wenn die Bundesregierung Milliarden in die Stützung der Automobilwirtschaft pumpte, die dann als Strafzahlungen direkt an die EU flößen.

Wird es - trotz allen Beschwichtigungen aus Politik und Wirtschaft - eine Entlassungswelle geben?

Helmut Becker schreibt für ntv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt. Becker war 24 Jahre Chefvolkswirt bei BMW und leitet das "Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation (IWK)". Er berät Unternehmen in automobilspezifischen Fragen.

Helmut Becker schreibt für n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt. Becker war 24 Jahre Chefvolkswirt bei BMW und leitet das "Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation (IWK)". Er berät Unternehmen in automobilspezifischen Fragen.

Ja, eine Entlassungswelle wird sich leider wohl nicht vermeiden lassen. Wichtig ist nur, dass es dabei nicht zu Elend und massiven Einkommens- und Konsumverlusten kommt, wie das 1930 der Fall war. Die Wirtschaft wird versuchen, dass analog zur Krise 2008/2009 es so lange wie möglich geht hinauszuschieben und letzten Endes abzuschwächen. Aber beschönigen hilft ja nichts; hier ist ja keine Talkshow. Je länger die Corona-Krise dauert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Firmen Mitarbeiter entlassen müssen, um Kosten zu senken und so den eigenen Fortbestand zu sichern. Klar ist aber auch: In dieser Situation ist von allen Seiten Solidarität gefordert, von den Unternehmen wie von den Arbeitnehmern. Aber die Lasten dürfen nicht einseitig verteilt werden. Kurzarbeit und Lohnkürzungen werden zur Entlastung der Betriebe beitragen. Aber die Arbeitnehmer dürfen nicht allein die Leidtragenden der Krise sein, auch die Unternehmen und Arbeitgeber müssen ihr Scherflein beitragen.

Am Ende profitieren beide Seiten?

Genau, denn eines ist sicher, so meine 50 Jahre Erfahrungen in der Wirtschaft: Keine Krise dauert ewig, der nächste Boom kommt im Anschluss bestimmt. Ist die Krise beendet, so ist eine schnelle Genesung der Autobranche wie der gesamten deutschen Industrie zu erwarten. Mehr noch: Ich sehe gerade durch die Krise viele neue Wachstumschancen am deutschen Wirtschaftshorizont heraufziehen. Zunächst aber ist gegenseitige Hilfsbereitschaft gefragt.

Mit Helmut Becker sprach Thomas Badtke

Quelle: ntv.de

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