Wirtschaft

Angriffe im Roten Meer "Unternehmen sind bereit, beachtliche Preise zu zahlen, um leere Regale zu vermeiden"

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(Foto: picture alliance/dpa/Houthi Military Media Center)

Es scheint, als könnten die Angriffe der Huthis den Lieferketten nichts anhaben. Doch wie widerstandsfähig sind sie wirklich? Im Interview erzählt Experte Eric Fullerton von dem Logistikdienstleister Project44, wieso die Auswirkungen bislang auf sich warten lassen und wer den Preis dafür am Ende zahlt.

ntv.de: Seit Ende vergangenen Jahres steht eine der wichtigsten Handelsrouten im Roten Meer durch die Huthis unter Beschuss. Etliche Reedereien leiten deswegen ihre Schiffe um. Vor welchen Herausforderungen steht die Branche?

Eric Fullerton: Die Schiffe in diesem Gebiet stehen vor einer schwierigen Entscheidung. Nehmen sie das gesteigerte Risiko in Kauf, umfahren sie Afrika oder ankern sie an ihrer aktuellen Position und warten auf eine sichere Durchfahrt? Momentan schätzen wir, dass 271 Schiffe Afrika umfahren. Man könnte den Eindruck gewinnen: Ein paar Hundert Schiffe, das ist keine große Sache. Wir sprechen hier aber von 4,5 Millionen Containern. Das sind insgesamt Waren im Wert von etwa 225 Milliarden Dollar. Fünf weitere Schiffe verweilen gerade an ihrem aktuellen Standort und beobachten die Entwicklung des Konflikts. Trotz der Initiierung der Operation Prosperity Guardian vermeiden diese Schiffe die Durchfahrt. Das deutet darauf hin, dass die Verlader die Sicherheit des Roten Meeres weiterhin anzweifeln.

Komplett zum Erliegen ist der Schiffsverkehr noch nicht gekommen.

Eric Fullerton ist Senior Director bei Project 44, einem Supply Chain-Manager aus den USA. Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als Spezialist für Technik und Logistik und bietet Lösungen an, Lieferketten und Warenströme sichtbarer und damit planbarer zu machen.

Eric Fullerton ist Senior Director bei Project 44, einem Supply Chain-Manager aus den USA. Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als Spezialist für Technik und Logistik und bietet Lösungen an, Lieferketten und Warenströme sichtbarer und damit planbarer zu machen.

Die Anzahl der Schiffe, die den Kanal noch passieren, ist seit den Angriffen um 77 Prozent auf durchschnittlich 3,4 Schiffe pro Tag gesunken. Vor den Angriffen waren es 15 Schiffe pro Tag. Die Schiffe, die sich momentan noch am sichersten fühlen und deswegen nicht vor der Route zurückschrecken, sind Schiffe auf dem Weg nach Südostasien und China. Sie stehen nicht im Fokus der Huthis.

Wie viel länger dauert die Route, die die Schiffe jetzt nehmen müssen?

Das hängt natürlich vom Anlaufhafen ab. Die Transitzeit hat aber für Container auf allen Routen zugenommen. Die Verzögerungen spiegeln sich zwar noch nicht vollständig in den Container-Transitzeiten wider. Die Änderungen in den Schiffsfahrplänen liefern aber einen Hinweis auf die bevorstehenden Entwicklungen. Im Schnitt brauchen die Schiffe inzwischen 7 bis 20 Tage länger.

Mit wie viel Mehrkosten ist das verbunden?

Ein Schiff, das den Umweg um das Kap der Guten Hoffnung nimmt, hat allein einen erhöhten Treibstoffverbrauch von einer Million Dollar. Und diesen Umweg nehmen inzwischen Hunderte von Schiffe. Die Kosten für die Crew, Vorräte etc. sind da noch nicht eingerechnet.

Auch die Kosten für Frachtraten sind auf schwindelerregende Höhen geklettert.

Der Gesamtfrachtindex für einen 40-Fuß-Einheitscontainer ist von Woche zu Woche um 23 Prozent und im Jahresvergleich um 82 Prozent gestiegen. Die Steigerungen für bestimmte Routen, vor allem von Asien nach Europa und in den Mittelmeerraum, betrugen über 150 Prozent.

Werden sich diese zusätzlichen Kosten auch auf die Verbraucherpreise auswirken?

Die Unternehmen haben die Möglichkeit, die entstehenden Kosten selbst zu tragen. Das hätte dann keine Auswirkungen. Höchstwahrscheinlich werden die Kosten jedoch an die Verbraucher weitergegeben, was zu einer anhaltenden Inflation beitragen würde.

Können Unternehmen auch auf Bahn oder Luftverkehr ausweichen?

Ja, absolut. Der Luftverkehr ist für Verlader und Unternehmen der schnellste Weg, um Verzögerungen und Unterbrechungen zu überwinden. Allerdings ist er auch der teuerste. Denken Sie daran, dass wir hier über ein Frachtvolumen von Hunderten von Milliarden Dollar sprechen und dass der Lufttransport im Durchschnitt fünfmal teurer ist als der Seetransport. In den letzten Wochen sind die Luftfrachtpreise um rund 15 Prozent gestiegen - und das wird auch so bleiben. Die Entscheidung, die die Unternehmen jetzt treffen müssen, lautet: Was wird mir mehr schaden? Leere Regale, die Unterbrechung einer Fertigungs- oder Produktionslinie oder die erheblichen zusätzlichen Kosten?

Ab wann werden Verbraucher die gestörte Lieferkette zu spüren bekommen?

Die erhöhten Transitzeiten werden sich weltweit auf die Lagerbestände auswirken. Bestellprozesse sind oft methodisch und basieren auf Durchschnittswerten und historischer Nachfrage. Da diese Verzögerungen unerwartet aufgetreten sind, konnten Unternehmen nicht proaktiv auf diese Situation reagieren. Das kann dazu führen, dass einige Produkte nicht rechtzeitig verfügbar sind.

Bislang beschwichtigen viele Experten: Die Huthi-Angriffe haben keine unmittelbaren Auswirkungen auf Lieferungen.

Die Auswirkungen von Lieferkettenunterbrechungen werden von den Verbrauchern nicht sofort wahrgenommen. Deswegen ist auch das Weihnachtsgeschäft nicht beeinträchtigt gewesen. Das Blatt wendet sich nun etwas. Die ersten Engpässe auf den Lagerbeständen könnten sich im Februar bemerkbar machen. Ich denke, dass viele Unternehmen bereit sind, beachtliche Preise zu zahlen, um leere Regale zu vermeiden. Auf den ersten Blick ist das gut für den Verbraucher. Letztlich werden sie aber die zusätzlichen Kosten für Kraftstoff, Container und Zuschläge zu spüren bekommen. Unternehmen versuchen, ihre Gewinnspannen und ihren Cashflow zu schützen, was bedeutet, dass die Kosten an die Verbraucher weitergegeben werden.

Welche Branchen sind besonders anfällig für Lagerausfälle und Engpässe im Produktionsprozess?

Prinzipiell ist jede Branche betroffen. Schließlich wird ein beträchtlicher Anteil des weltweiten Frachtverkehrs über das Rote Meer und den Suezkanal abgewickelt. Allerdings werden Sektoren, die nach dem Just-in-Time-Bestellmodell (JIT) arbeiten, stärkere Auswirkungen verspüren. Das trifft zum Beispiel auf die Automobilindustrie zu.

Sind die aktuellen Probleme im Vergleich zur Corona-Pandemie ein Kinderspiel?

Gerade nach Corona hat die Supply-Chain-Technologie einen regelrechten Boom erlebt. Davon profitieren jetzt etliche Unternehmen. Die Probleme mit den Lieferketten während Corona lassen sich mit der aktuellen Situation zwar nur schwer vergleichen. Man kann allerdings durchaus sagen: Ähnlich wie während der Pandemie wissen wir auch jetzt nicht: Wie lange werden die Attacken noch andauern? Die Angriffe der Huthi-Rebellen im Suezkanal wirken sich auf bestimmte Routen allerdings stärker aus als auf andere. Das wird man in Europa stärker zu spüren bekommen als in den USA.

Ist ein Welthandel ohne diese kürzeste Route zwischen Asien und Nordeuropa auf Dauer überhaupt realistisch?

Auf lange Sicht nicht. Immerhin laufen 30 Prozent des gesamten Containerverkehrs durch den Suezkanal. Die Huthi-Attacken können zwar noch Monate andauern. Allein wegen seiner Effektivität wird der Suezkanal aber immer ein gangbarer Weg bleiben. Der Umweg um das Kap der Guten Hoffnung dauert einfach signifikant länger und kostet mehr.

Mit Eric Fullerton sprach Juliane Kipper

Quelle: ntv.de

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