Wirtschaft

"Notruf" aus den NRW-Unikliniken "Wir haben uns den Streik nicht ausgesucht"

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Seit Mai wird in Nordrhein-Westfalen gestreikt. Die Kliniken arbeiten nur im Notbetrieb.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Die Belegschaften der sechs nordrhein-westfälischen Unikliniken gehen seit Wochen auf die Barrikaden. Sie fordern nicht etwa mehr Lohn, sondern weniger Belastung im Arbeitsalltag. Doch von Annäherung keine Spur. Inzwischen treffen sich die Konfliktparteien vor Gericht.

Wie verhärtet die Fronten an den nordrhein-westfälischen Universitätskliniken sind, ließ sich am Dienstag im Bonner Arbeitsgericht beobachten. Seit Wochen streiken die Beschäftigten der sechs Unikliniken des Landes und organisieren Proteste. Doch statt am Verhandlungstisch, saßen sich die Konfliktparteien im Gerichtssaal gegenüber. Per einstweiliger Verfügung wollte die Klinikleitung in Bonn ihre Beschäftigten wieder in den geregelten Arbeitsbetrieb zwingen. Vor Gericht offenbarte sich eine tiefe Kluft, Prozessbeobachter berichteten dem WDR zufolge von einem "fast schon aggressiven Ton". Während der Klinikvorstand angab, der Streik gefährde das Patientenwohl, argumentierte die Gewerkschaft Verdi mit einer dramatischen Arbeitsüberlastung der Angestellten - und bekam Recht. Die Richterin schmetterte die Unterlassungsklage ab. Der Streik geht also weiter und die Kliniken verbleiben im Notbetrieb.

Was sich dieser Tage in NRW ereignet, kann ohne Übertreibung als ein Aufstand der Krankenhausbeschäftigten gegen ihre Arbeitsbedingungen bezeichnet werden. Die Angestellten der Unikliniken in Essen, Köln, Bonn, Aachen, Münster und Düsseldorf befinden sich seit nunmehr sieben Wochen im Streik - ein bislang unbekanntes Ausmaß im deutschen Gesundheitswesen. In dem von Verdi ins Leben gerufenen Bündnis "Notruf NRW" findet sich nicht nur die Pflege als größte Berufsgruppe wieder, sondern auch Therapeutinnen und Therapeuten, das Servicepersonal oder die Logistik. Nur die ärztlichen Angestellten fallen nicht darunter, denn sie sind vertraglich an die Universitäten gebunden.

So scheint es, als entlädt sich auf den Straßen westdeutscher Großstädte eine seit Jahren angestaute und spätestens mit der Corona-Pandemie übergeschwappte Frustration. Denn nur als systemrelevant beklatscht zu werden, reicht dem Klinikpersonal nicht aus. "Die Situation ist nicht mehr tragbar", sagt Albert Nowak ntv.de. Der 24-Jährige arbeitet als Intensivpfleger an der Uniklinik Köln. Und er streikt. Denn die hohe Belastung untergrabe mitunter sogar Versorgungsstandards. "Da kommt es dazu, dass Patienten gefährdet werden."

Es fehlt an Pflegekräften

Laut "Notruf NRW" haben viele Beschäftigte infolge des Dauerstresses bereits selbst gesundheitliche Probleme oder wenden sich von ihrem Beruf ab. Ein Teufelskreis, denn die Arbeitsbedingungen sind so prekär, eben weil es an Fachpersonal fehlt - besonders in der Pflege. Allein in den Krankenhäusern NRWs beziffert die Gewerkschaft Verdi die Leerstellen auf 20.000. Bundesweit sind es lediglich auf Intensivstationen rund 50.000 fehlende Pflegende, zeigt eine Analyse der Hans-Böckler-Stiftung. Damit nicht genug: Einer Umfrage der Alice Salomon Hochschule Berlin zufolge erwägen 40 Prozent der Pflegenden, den Beruf zu wechseln.

Ressourcen stünden jedoch zumindest beim Pflegepersonal bereit. Mindestens 300.000 Vollzeitkräfte würden wieder in die Kranken- und Altenpflege zurückkehren, geht aus der Studie "Ich pflege wieder, wenn …" der Arbeitnehmerkammer Bremen hervor. Allerdings müssten sich die Arbeitsbedingungen dafür deutlich verbessern. Genau hier setzen die Forderungen der Streikenden an. Denn die Verhandlungen zielen nicht etwa auf höhere Löhne ab.

"Notruf NRW" will einen Tarifvertrag Entlastung. Konkret heißt das: Neueinstellungen. "Wir fordern ein Personal- zu Patientenverhältnis. Wenn das unterschritten wird, gibt es einen Belastungspunkt. Ab einer gewissen Anzahl von Belastungspunkten soll es als Ausgleich einen freien Tag geben", erklärt Intensivpfleger Nowak. So gebe es einen Mechanismus, der Kliniken dazu bewegt, mehr Personal aufzubauen. "Das sorgt dafür, dass es attraktiver wird, die Regelungen umzusetzen, statt noch mehr Belastungspunkte aufzubauen."

Forderungen von unten

Entstanden sei der städteübergreifende Streik als eine Art Graswurzelbewegung. "Wir sind auf die Stationen gegangen, haben viele Gespräche mit den Beschäftigten geführt und gefragt: Was braucht ihr, um die Patienten adäquat zu versorgen und gleichzeitig euren beruflichen Ansprüchen gerecht zu werden?", sagt Nowak. Aus den Antworten resultierte ein Forderungskatalog, mit dem Ultimatum an die Klinikleitungen, innerhalb von Hundert Tagen zu reagieren. "In dieser Zeit ist nichts passiert. Deswegen sind wir im Mai in den Streik getreten", so der Intensivpfleger. "Denn unsere Forderungen sind durch Studien belegt und entsprechen weitestgehend dem, was beispielsweise Fachgesellschaften auch fordern."

Die Leitung des Uniklinikums in Essen zeigt zwar Verständnis für die Anliegen der Mitarbeitenden, stellt aber eine Verwirklichung infrage. Denn das benötigte Personal sei auf dem Arbeitsmarkt gar nicht verfügbar, teilt Klinikvorstand Jochen Werner ntv.de mit. "Neues Personal müsste neben einer möglichen, allerdings begrenzten Rekrutierung aus dem Ausland, maßgeblich auch von anderen Krankenhäusern abgeworben werden." Ansonsten drohe sich die Bettenanzahl zu reduzieren. Die Folge: Ein Verdrängungswettbewerb. Laut Werner würde das perspektivisch nicht nur die medizinische Versorgung verschlechtern, sondern auch zu erheblichen Mehrkosten im Gesundheitswesen führen, "die am Ende des Tages von den Bürgerinnen und Bürgern durch Steuern oder hohe Zuzahlungen getragen werden müssten".

"Notruf NRW" hingegen sieht die Landesregierung in der Pflicht, etwaige Defizite im Haushalt der Krankenkassen auszugleichen. Einem Personalmangel widerspricht das Bündnis mit Verweis auf entsprechende Studien wie "Ich pflege wieder, wenn ..." der Arbeitnehmerkammer. Werner sieht das anders: "Die Vorstellung, dass zahlreiche Pflegekräfte, die ihren Beruf vor Monaten oder Jahren verlassen haben, nach Abschluss eines Tarifvertrages in ihre früheren Arbeitsstätten zurückströmen, teile ich nicht."

Verdi kritisiert eine "Mogelpackung"

Vor rund einer Woche kommt plötzlich Bewegung in die Tarifrunde. Die Vorstände der Unikliniken gestehen Entlastungstage und Personalaufbau zu - allerdings nur für die Pflegenden am Bett. Da diese Berufsgruppe als einzige vom Bund refinanziert wird, sieht Nowak einerseits eine Lösung "zum Nulltarif", als auch den Versuch, die streikende Belegschaft zu spalten. Die Gewerkschaft ließ den Vorschlag als "Mogelpackung" abblitzen.

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Längst hat der Konflikt zwischen Arbeitnehmer und -geber auch eine moralische Ebene erreicht. Laut dem WDR setzten die Unfallchirurgen der sechs Krankenhäuser einen Brandbrief auf, weil 300 Notfallpatienten unversorgt seien. Ein Streik auf den Schultern der Kranken also? "Dass Operationen abgesagt wurden und Patienten nicht immer optimal versorgt werden konnten, war auch schon vor dem Streik und sogar vor Corona so", sagt Nowak. "Wir haben Notdienstvereinbarungen und sichern ab, dass dringende Eingriffe gemacht werden. Die Arbeitgeber haben jederzeit die Möglichkeit, auch dringende Angelegenheiten anzusprechen", erklärt er.

Auch die Klagenden in Bonn beriefen sich auf eine gefährdete Patientenversorgung. Eine Auffassung, die das Gericht nicht teilte. Demnach sind die Auswirkungen des Streiks verhältnismäßig und die Forderungen tarifierbar. Die Chefetage der Bonner Uniklinik ist offenbar anderer Meinung und prüft, Rechtsmittel gegen das Urteil des Arbeitsgerichts einzulegen. Die Gespräche mit Verdi dauern derweil an, für kommende Woche sind neue Verhandlungsrunden angesetzt. "Ich würde mir wünschen, dass die Arbeitgeber weg von dieser Konfrontationsstrategie gehen und gute Angebote machen, die unseren Forderungen gerecht werden", so Nowak. Denn die sieben Wochen Arbeitskampf nagen auch an ihm. "Aber wir haben uns das nicht ausgesucht. Darum streiken wir so lange weiter, bis wir den Tarifvertrag für Entlastung haben."

Quelle: ntv.de

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