Wenn der Exot zum Normalo wird McLaren 720 S Spider vs. KTM X-Bow R
28.11.2021, 16:14 Uhr
Auf den ersten Blick sind der McLaren 720 S und der KTM X-Bow R recht unterschiedlich, doch eins verbindet sie dennoch.
(Foto: Patrick Broich)
Der McLaren 720 S steht für Trackperformance der Spitzenklasse, ist aber ein kostspieliges Unterfangen. Die vorwiegend als Motorradhersteller bekannte Firma KTM hat mit dem X-Box ein Gaudimobil im Köcher, das auf ähnlichem Spaßlevel rangiert, allerdings auch keine Kompromisse im Alltag zulässt.
Wenn in einem Fahrzeugvergleich ein McLaren involviert ist, dann ist der Brite in der Regel der Exot. Doch Ausnahmen bestätigt bekanntermaßen die Regel. Und voilà, plötzlich ist der McLaren 720 S Spider das normale Auto, während der Vergleichskandidat KTM X-Bow der Exot ist. Und er ist im Vergleich auch noch das deutlich günstigere Spaßmobil. Wobei auch ein X-Bow R mit 300 PS deutlich diesseits der 150.000 Euro-Schwelle rangiert. Kunden des prestigeträchtigen 720 S werden angesichts solcher Kurse aber nur schmunzeln - sie bezahlen locker das Doppelte des Preises eines KTM mit Straßenzulassung.
In acht Sekunden auf 200

Im Alltag mag der McLaren 720 S gegenüber dem KTM X-Bow R seine Vorzüge haben.
(Foto: Patrick Broich)
So ein 720 S hat natürlich seine Vorzüge. Einerseits ist der durchaus alles andere als konventionelle Brite mit dem Karbonmonocoque ein unerbittlicher Racer mit Bestzeit-Garantie auf der Nordschleife. Selbst Menschen, die nicht auf der Jagd nach der letzten Zehntelsekunde sind, werden am 720 S Freude haben. Denn er macht es ihnen leicht, beispielsweise innerhalb von knapp acht Sekunden auf 200 km/h zu stürmen. Die 305er Pirelli P Zero Corsa bauen im warmen Zustand eine solche Traktion auf, dass es schwierig wird, den Mittelmotor-Sportler - im wahrsten Sinne des Wortes - aus der Spur zu bringen.
Einsteigen (was simpel gelingt), anschnallen und loslegen - das Supercar mit siebenstufigem Doppelkupplungsgetriebe fährt quasi alltagstauglich in nahezu jeder Lebenslage. Und wer möchte, kann im Falle des hier besprochenen Spider ganz einfach per Knopfdruck das elektrisch betriebene Hardtop zusammenfalten und sich den Wind um die Nase wehen lassen. Kein fummeliges Verdeck-Hantieren also, wie es in einem solchen Segment gar nicht verwundern würde.
Stilecht mit Fliegerbrille

Der KTM X-Bow R ist bei seinem üppigen Preis doch eine sehr spartanische Fahrmaschine.
(Foto: Patrick Broich)
Wind, davon braust im KTM X-Bow eine ganze Menge. Denn es gibt keine Frontscheibe, sondern stattdessen ein Scheibchen, das je nach Statur des Piloten gerade einmal bis zu den Haarspitzen reicht. Passagiere mit langem Oberkörper sei eine stilechte Fliegerbrille ans Herz gelegt. Doch bis man überhaupt in den stürmischen Genuss kommt, vergeht noch eine ganze Weile. Zumindest ungeübte Fahrer könnten sich anfangs schwertun, den X-Bow zu erklimmen.
Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn über Türen verfügt der Österreicher nicht, sodass man seinen Körper ein bisschen ertüchtigen muss. Etwas mehr Platz entsteht, wenn man vor dem Einsteigen das Lenkrad abnimmt. Und hat man den KTM endlich geentert, erfolgt nach dem Wiederanstecken des Lenkrads der Anschnall-Prozess. Je nach Ausführung sorgt ein Vier- oder Sechspunkt-Gurt für das sichere Verzurren der menschlichen Fracht. Dann noch die Pedalstellung (der Sitz steht fest) an die persönliche Beinlänge anpassen, und es kann losgehen.
PS je nach Wunsch
Genau wie der McLaren bildet auch beim X-Bow ein Karbonmonocoque das Gerüst - allerdings verzichtet KTM auf jeglichen massefördernden Schnickschnack. Samt Tankfüllung kommt der X-Bow auf etwas mehr als 800 Kilogramm, während sein aufgeladener Zweiliter-Ottomotor aus dem Volkswagen-Konzern in der hier besprochenen RR-Ausführung rund 415 Pferdchen bereitstellt. Hier hat das Entwicklerteam des Hauses Teichmann Racing selbst Hand angelegt. Teichmann ist mehr als nur einfacher KTM-Händler - die Experten aus Adenau (genau, die Stadt, durch deren Gebiet auch die Nordschleife führt) testen und tüfteln, und das sogar ganz offiziell. Wenn Teichmann Kits zur Steigerung der Performance herausbringt, nimmt KTM sie in sein Portfolio auf.
Der X-Bow RR, wie er an dieser Stelle antritt, wird im Gegensatz zum 300 PS starken R nicht mit einer fixen Leistung angegeben, sondern powert auf dem Prüfstand, was der Kunde herausgekitzelt haben möchte. Teichmanns Vorführer soll es auf rund 415 PS bringen, die also auf unter 900 Kilogramm mit Besatzung treffen. Kein Wunder, dass der 720 S Spider den X-Bow RR keineswegs so einfach abgeschüttelt bekommt. Zwar wuchert dessen wohlklingender Vierliter-Flatplane-Achtzylinder mit 720 PS an der Hinterachse, muss aber gut und gerne 1,5 Tonnen schleppen - immer noch atemberaubende 2,1 kg/PS in der Leistungsgewichtsbilanz.
Der X-Bow wirkt extremer

Die Frage nach der Alltagstauglichkeit stellt sich bei einem KTM X-Bow nicht.
(Foto: Patrick Broich)
Die liegen beim X-Bow indes ebenfalls an - kein Nachteil also für den minimalistischen Renner aus Mattighofen. Die Österreicher kaufen übrigens nicht nur den Vierzylinder bei Volkswagen ein, sondern binden auch gleich noch das passende Sechsgang-Doppelkupplungsgetriebe an. Nach ein paar Eingewöhnungsrunden hat man Vertrauen in den KTM gefasst, der je nach Spezifikation auf Assistenzsysteme pfeift. Ein Sperrdifferenzial an der Hinterachse wirkt sich bei extremer Querbeschleunigung indes traktionsfördernd aus.
Und auch wenn der X-Bow am Ende wenige Zehntelsekunden langsamer 100 oder gar 200 km/h erreicht - er fühlt sich doch extremer an. Der gemachte und bei fortgeschrittener Drehzahl wütend schnaubende Zweiliter passt mit seiner Tonkulisse perfekt zum X-Bow. Er muss sich fast anstrengen, um bei dem Windgetöse erhört zu werden. Und man ist einfach näher am Straßengeschehen als im hiergegen leise wirkenden Siebenhundertzwanzig, wenn man über das kehrenreiche Straßengewühl um den Nürburgring rumpest. Und im Quertreiben ist das hinterradgetriebene Superfliegengewicht ohnehin ein Spezialist.

Damit auch jeder Fahrer eines McLaren 720 S weiß, was er fährt, gibt es eine Plakette.
(Foto: Patrick Broich)
Zurück im McLaren: Der fühlt sich fast zivil an im Vergleich mit dem KTM - zumindest, wenn seine Pferde nicht aus dem Stall geholt werden. Mit Tempomat bei moderatem Tempo in den trotz extremer Seitenhalt-Ausrichtung kommod anmutenden Schalen dahinzuschippern, kann sogar entschleunigend wirken. Sobald die Leistung aber zum Einsatz kommt, wird der 720 S zum Biest, frappiert mit seinem Druck beim Geschwindigkeitszuwachs sowie den überragenden Kurvengeschwindigkeiten - aber eben auch mit einem annehmbaren Fahrwerk.
Das federt bei ziviler Fahrweise tatsächlich rückenschonend. Auch die Platzverhältnisse im Briten sind durchaus großzügig, da ist das Interieur des X-Bow gefühlt knapp bemessen, was er durch seine Freiheit nach oben aber wieder ausgleicht. Allein die nach oben öffnenden McLaren-Türen mögen zwar für guten Showeffekt sorgen, helfen aber mitnichten, seine Praxistauglichkeit zu verbessern. Unmittelbar nachdem man sich allerdings aus dem KTM geschält hat, wirkt aber auch diese Eigenart des Briten äußerst alltagstauglich.
Quelle: ntv.de, Patrick Broich