
Auf einer Landebahn des stillgelegten Flughafens Tegel wurde das "Berlin loves you"-Fest gefeiert.
(Foto: picture alliance/dpa)
Unser Kolumnist glaubte bislang, der intellektuellen und kulturellen Elite anzugehören. Irrtum. Denn er besitzt kein Lastenfahrrad. Dafür aber Verstand. Wie Sie hier wieder merken werden.
Ein Sehr-Gutmensch, zu denen ich mich nach eigenem Ermessen rechnen darf, ist selbstverständlich der Bescheidenheit verpflichtet. Dennoch muss ich mir bescheinigen, recht klug zu sein. Selbst nach objektiven Maßstäben kann ich es nur so sagen: Ich bin schlau wie ein Bauer! Was ich so alles in meinem Leben an Voll-, Dreiviertel-, Halb- und Viertelwissen angehäuft habe, passt auf kein Lastenfahrrad. Es ist bewundernswert. Ich jedenfalls bewundere mich dafür und - nun muss ich in die Vergangenheitsform wechseln - zählte mich deshalb bislang zur intellektuellen Elite. Offenbar ein Irrtum.
Neulich las ich in einer konservativen Zeitung: "Unsere intellektuellen und kulturellen Eliten haben ihren Denkhorizont auf die Reichweite ihres Lastenfahrrads reduziert." Auf mich trifft das nicht zu, da ich kein Lastenfahrrad besitze und wohl niemals eins besitzen werde. Ich brauche keins, ich trage die Last des Daseins auf meinen Schultern und schleppe käufliche Dinge aus dem Supermarkt umweltschonend in Stoffbeuteln nach Hause. Sollte es allerdings so sein, dass der Besitz eines Lastenfahrrads Voraussetzung dafür ist, in den erlauchten Kreis intellektueller und kultureller Eliten aufgenommen zu werden, würde ich nochmals in mich gehen und darüber nachdenken, ob ich mir nicht doch eins zulege, quasi als Statussymbol.
"Quasi" ist ein komisches Wort. Hat es mit Quasimodo zu tun? Darüber muss ich nachdenken. Nachdenken ist ganz meine Welt. Wenn Sie wüssten, worüber ich so den ganzen lieben langen Tag nachdenke. Zum Beispiel darüber, ob Franz Liszts Klaviersonate in h-Moll einen programmatischen Hintergrund hat. Was könnte der Inhalt dieses Meisterwerkes sein? Sie wissen, die Sätze werden ohne Pause durchgespielt. Ist das ein Zeichen von Rastlosigkeit? Stehen die ersten und letzten Takte für Geburt und Tod? Mir scheint es so. Die Akkorde am Schluss der Sonate klingen nach: Ende.
Aber ich widme mich auch ernsten Fragen: Warum unterhalten sich Männer im Fernsehen vor weißem Hintergrund über die Vorzüge von Matratzen? Bin ich vielleicht kein Mann, weil ich noch nie mit der Intensität jener TV-Männer über Matratzen diskutiert habe? Nee, nee, nee, nee. Ich bin ein Mann und bleibe einer. Dazu müssen Sie wissen, dass ich viel Geld für eine hüftschonende Matratze ausgegeben und es nie bereut habe. Wichtiger Hinweis: Sparen Sie nicht bei der Matratze!
Es gibt wichtigere Dinge als Matratzen
Aber darüber würde ich nicht im Fernsehen reden. Es gibt wichtigere Dinge. Müssen unsere Gesetzbücher umgeschrieben werden, in denen von "Eigentumserwerb an beweglichen herrenlosen Sachen" die Rede ist? Schließen solche Texte, nach denen deutsche Gerichte urteilen, Frauen aus? Nun, das Frauenthema ist dann vielleicht intellektuell doch zu viel für mich, einem Mann mit prima Matratze, aber ohne Lastenfahrrad. Ich erinnere an das Sprichwort: Schuhreparierende, bleibt bei euren Leisten. Früher, als noch alles gesagt werden durfte, was man sagen wollte, hieß das: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Aber das schließt die unzähligen Frauen aus, die dem Beruf der Schusterin nachgehen, sodass "Schuster" auf den Index muss.
Sie merken, ich bin heute friedlich und positiv gestimmt. Ich erkenne mich gar nicht wieder. Saskia Esken verschone ich mit Vergnügen. Annalena Baerbock ebenfalls, obwohl ich mir notiert hatte, dass sie bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bochum ein Trikot übergezogen hat mit dem Werbeschriftzug "Vonovia". Das ist der Immobilien-Konzern, den die Berliner Grünen bei Bedarf enteignen wollen. Der Bedarf an Wohnungen ist riesig.
Ich könnte hier die Fragen behandeln, ob Frau Baerbock von Beratern umgeben ist, die eventuell wahlstrategische Defizite haben oder es generell nicht gut mit ihr meinen. Baerbock als "Nummer 1". Nett gemeint. Aber braucht das Land nicht Stürmende (früher Stürmer genannt) und keine Torhütenden (früher Torhüter genannt)? Auch, dass wenige Stunden nach der Wahlkampfnummer in mehreren Berliner Stadtteilen elf Firmenwagen von Vonovia bei Brandanschlägen in Flammen aufgingen und zerstört wurden, will ich nicht thematisieren, weil das mit den Grünen nichts zu tun hat. Die sind gegen Gewalt.
Immer positiv denken!
Andere zu beleidigen, fällt nicht unter Meinungsfreiheit! Positiv denken! Lasst uns Friedensbotschaften in die Welt senden. Wie die deutsche Hauptstadt, als sie mitten im August trotz aufkommender Delta-Gefahr unter dem Motto "Berlin loves you" ein Fest auf dem ehemaligen Flughafen Tegel gefeiert hat. Für das "Freedom Dinner" - in einer Weltstadt wie Berlin wird Englisch gesprochen - hat die rot-rot-grüne Landesregierung rund 500.000 Euro Steuergelder lockergemacht. Nein, das Dinner hatte nichts mit Wahlkampf zu tun. Franziska Giffey war nicht als Berliner SPD-Spitzenkandidatin, sondern als Landesvorsitzende ihrer Partei dringend um Erscheinen gebeten worden. Die Einladung konnte sie nicht ausschlagen.
Der "Tagesspiegel" zitierte einen Visit-Berlin-Sprecher mit den Worten, die Stadt habe zeigen wollen, "dass wir als Gastgeber wieder da sind. Es ging darum, ein Lebenszeichen aus Berlin zu senden. Das ist uns gelungen." Mit anderen Worten: Das demokratische Berlin hat die Luftbrücke, die Schließung von Tegel, den Bau des neuen Großdingsbums, die Pop-up-Radwege und den gescheiterten Mietendeckel überstanden. Und - last but not least - die Pandemie. Juhu, die halbtote Stadt lebt! Das musste gefeiert werden.
3000 Menschen aßen Avocados und Brandenburger Gurken auf einem stillgelegten Rollfeld. Ich bin sicher, dass das Signal überall auf der Welt empfangen wurde. Die Botschaft kann sich nur wie ein Lauffeuer um den Globus verbreitet haben. Nicht gut fürs Klima, aber den Tourismus. Nun kommen sie wieder hergeradelt und -geflogen, die Besucher aus aller Frauen Länder, verstopfen die Straßen, bevölkern die Hotels und 20.000 illegalen Urlaubsbleiben, hinterlassen ihren Müll und kaufen in China produzierte Souvenirs - und im Anschluss beklagt die rot-rot-grüne Koalition fehlende Wohnungen, die Erderwärmung und dass die Rettung der Welt nur auf ihren und den Schultern der Lastenfahrradfahrenden liegt.
Kauf ich mir jetzt eins? Ich denke darüber nach. Und höre dabei Liszts Sonate in h-Moll.
Quelle: ntv.de