
Ihre Mutter bricht im Konzentrationslager zusammen, doch Emmie Arbel weiß, dass sie sich nicht bewegen darf, sonst wird sie bestraft.
(Foto: Verlag C.H.Beck, München 2022)
Sie mussten schreckliche Verbrechen miterleben: Vier Kinder, die den Holocaust überlebt haben. Das Buch "Aber ich lebe" erzählt ihre Geschichten als Comic. Zeichnerin Barbara Yelin sieht darin die Chance, "Türen in neue Generationen aufzumachen", bevor es keine Zeitzeugen mehr gibt.
"Freiheit ist kein Geschenk des Himmels", sagt David Schaffer. "Man muss jeden Tag dafür kämpfen. Bitte behaltet das in Erinnerung!" Es ist ein bewegender Moment, als der über 90-Jährige diese Gedanken den Zuhörerinnen und Zuhörern im Juni auf dem Comic-Salon in Erlangen mit auf den Weg gibt. Schaffer, der per Videostream aus Vancouver zugeschaltet ist, hat gerade über ein Buch gesprochen, in dem seine Geschichte erzählt wird und die dreier anderer Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebt haben, und das nun auf Deutsch bei Beck erscheint: "Aber ich lebe! Vier Kinder überleben den Holocaust".
Das Besondere daran ist die Herangehensweise: Die Lebensgeschichten sind künstlerisch verarbeitet, bleiben aber dank wissenschaftlicher Hilfe nah an den historischen Tatsachen. So erzählt die deutsche Zeichnerin Barbara Yelin die Geschichte von Emmie Arbel, die mehrere Konzentrationslager überlebte, darunter Ravensbrück und Bergen-Belsen. Die amerikanisch-israelische Zeichnerin Miriam Libicki schildert den Lebensweg von Schaffer, der mit seiner Familie nach Transnistrien deportiert wurde. Der israelische Künstler Gilad Seliktar schließlich folgt in seiner Geschichte dem Weg von Nico und Rolf Kamp, die in insgesamt 13 Verstecken in den Niederlanden den Holocaust überleben konnten.

Ein Löffel - das ist alles, was Emmie Arbel von ihrer Mutter bleibt. Seite aus dem Beitrag von Barbara Yelin.
(Foto: Verlag C.H.Beck, München 2022)
Es ist ein Mammutprojekt, dass die drei Zeichner stemmen - und das nur möglich ist, weil hinter dem Buch ein internationales Netzwerk aus Künstlern, Forschenden und Einrichtungen wie etwa KZ-Gedenkstätten steht, die im umfangreichen Anhang zu Wort kommen. Einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Buches gewährt zudem eine Ausstellung im Erlanger Stadtmuseum, die noch bis Ende August zu sehen ist. Das Projekt namens Narrative Art & Visual Storytelling wird von Kanada finanziert. Angeschoben wurde es von der kanadischen Germanistin Charlotte Schallié, die sich mit dem Holocaust beschäftigt hat und dabei merkte, dass die Comicform bei ihren Studierenden besonders großen Nachhall hatte. Zu den ersten Künstlerinnen, die sie für das Projekt gewinnen konnte, gehörte Yelin, die sich bereits in ihrer preisgekrönten Graphic Novel "Irmina" mit der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt hat - damals aus der Perspektive der Täter und Mitläufer.
"Bei dem Projekt geht es darum, Holocaust-Überlebende in einen Dialog mit Graphic-Novelist*innen zu setzen und deren Geschichten zu erzählen, bevor die letzte Generation an Zeitzeug*innen stirbt", sagt Yelin im Gespräch mit ntv.de über den Ausgangspunkt des Buches. Es gebe eine Zeitenwende, so Yelin, "denn es werden Generationen kommen, die keine Überlebenden des Holocaust, keine direkten Zeitzeugen mehr sprechen können". Die Graphic Novel könne eine Form sein, die Ereignisse auf eine ganz besondere Art zu erzählen und "mit diesen Geschichten Türen in neue Generationen aufzumachen".
Der Kraftakt der Zeitzeugen

Die Erinnerungen an die Schrecken ihrer Kindheit begleiten Emmie Arbel bis heute. Seite aus dem Beitrag von Barbara Yelin.
(Foto: Verlag C.H.Beck, München 2022)
Emmie Arbel hatte anfangs Skepsis gegenüber der Kunstform Comic. Doch die legte sie nach einem Vorgespräch ab. Schließlich reiste Yelin kurz vor Beginn der Corona-Pandemie nach Israel und verbrachte mehrere Tage mit der Holocaust-Überlebenden. Arbel erzählte dabei ihre Geschichte nicht zum ersten Mal. Seit Jahren tritt sie vor Menschen auf und klärt sie über den Holocaust auf - ein ungeheurer Kraftakt. "Erst jetzt habe ich begriffen, was das bedeutet", sagt Yelin. "Die schlimmsten, traumatischen Erinnerungen wieder und wieder zu wiederholen, jedes Mal vor einem Publikum, das sich vielleicht nicht besonders gut auskennt, und Fragen zuzulassen, mit denen man immer wieder konfrontiert wird." Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen würden das als Auftrag verstehen: "Sie wollen die Zukunft ändern, damit das nie wieder passiert", erklärt Yelin.
Es ist die Stärke des Buches, dass es die Erlebnisse der Überlebenden nicht einfach nacherzählt, sondern die Menschen hinter den Biografien in den Mittelpunkt stellt. Yelin etwa reduziert Arbel nicht auf ihre Erinnerungen, sondern zeigt die gesamte Persönlichkeit. Immer wieder springt die Erzählung zwischen den Erinnerungen Arbels an die Konzentrationslager und ihrer Gegenwart in Israel, im Kreis von Kindern und Enkeln. Yelin spielt hier die Stärke des Comics aus: Sie überblendet beide Zeitebenen, verbindet sie durch Sprechblasen oder Bildunterschriften. Neben dem kleinen Mädchen im Konzentrationslager, dem die Haare geschoren werden, steht die alte Frau, die sich im Spiegel betrachtet und die fast losgeheult hätte, als sich eine ihrer Töchter die Haare sehr kurz schnitt.
Die Schlussfolgerung, die entsteht und die auch die anderen beiden Künstler aufgreifen, ist beklemmend: Die Erinnerungen sind kein Teil der Vergangenheit, sie gehören zum Alltag der Überlebenden, jeden Tag aufs Neue, auch über Generationen hinweg - ein Aspekt, den Art Spiegelman schon in seinem bahnbrechenden Holocaust-Comic "Maus" thematisiert hat. "Für mich hat das Arbeiten mit Emmie sehr greifbar gemacht, was damals passiert ist", sagt Yelin. "Natürlich ist auch historisches Lernen wichtig, Jahreszahlen oder politische Entwicklungen. Aber zu begreifen, was diese Ereignisse konkret bedeuten, ist über solche Geschichten und Persönlichkeiten noch mal ganz anders möglich", sagt sie. Sätze wie "Der Tod war uns sehr vertraut" von Arbel hallen bei der Lektüre entsprechend lange nach.
Nur wer die Regeln bricht, überlebt
Das stetige Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart, zusammengehalten durch die Protagonistin, macht den Beitrag über Emmie Arbel zum erzählerisch vielschichtigsten im Band. Allerdings haben alle drei Geschichten ihre Stärken, die sie aus den jeweils unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen ziehen.

Blick in die Ausstellung im Erlanger Stadtmuseum: Fotos, Skizzen, historische Dokumente, Archivmaterial bilden die Grundlage für die Recherche, hier für den Beitrag von Barbara Yelin.
(Foto: Markus Lippold)
"Du kannst es nicht vergessen. Es lässt dich nicht los, und es zermürbt dich", sagt David Schaffer in seiner Geschichte über die quälende Erinnerung an die drohende Vernichtung. Auch er schaut in einen Spiegel und sieht sein jüngeres Ich: Schaffer wurde 1940 mit seiner Familie von mit Deutschland verbündeten rumänischen Truppen nach Transnistrien deportiert. Sie kamen nicht in Konzentrationslager, sondern wurden in der unwirtlichen Gegend ausgesetzt, um zu sterben. Nur wer die strengen Regeln unter Lebensgefahr übertrat und die zugewiesene Gegend etwa auf der Suche nach Essen verließ, konnte wie Schaffer überleben. Es ist ein Kapitel des Holocaust, das in Deutschland wenig bekannt ist.
Die von der Künstlerin Miriam Libicki erzählte Geschichte besticht durch ihre visuellen Einfälle und die Farbigkeit. Während Yelin wie schon bei "Irmina" vor allem auf dunkle Blautöne setzt, die nur ab und zu durch die Sonne Israels aufgehellt werden, nutzt Libicki vor allem Rottöne und das Grün der Wälder, in denen sich Schaffer versteckt. Zusammen mit ihrem eher dicken Strich wirken ihre Bilder wie Buntstiftzeichnungen. Doch es gibt hier keine Leichtigkeit: Gezeigt wird das Elend der Menschen, die Brutalität der rumänischen Truppen, die ständige Todesangst in den Gesichtern. Hinzu kommen Darstellungen, die an technische Schaubilder erinnern - eine Reminiszenz an den Ingenieur Schaffer.

Regeln brechen, um zu überleben. Seite aus dem Beitrag von Miriam Libicki - hier noch ohne Text.
(Foto: Verlag C.H.Beck, München 2022)
Stilistisch noch einmal ganz anders erzählt Gilad Seliktar seine Geschichte über die Brüder Rolf und Nico Kamp, die auch hier immer wieder als Zeitzeugen auftreten, die über ihre Erinnerungen befragt werden. Seliktars Zeichnungen sind am Computer entstanden, sie sind sehr reduziert und lassen viele Freiflächen. Blaugrau und Beige bestimmen die Farbgebung, hinzu kommt jedoch immer wieder ein schroffer, schwarzer Strich, der gewaltvoll in die Bilder eindringt. Er ist wie die drohende Gefahr, die stetig über den jungen Brüdern schwebt und sie von Versteck zu Versteck fliehen lässt. An insgesamt 13 Orten, meist Bauernhöfe in den Niederlanden, überstehen die beiden den Holocaust.
Die Fragilität der Erinnerung
Wie schon bei Libicki spielt auch bei Seliktar die Landschaft eine wichtige Rolle. Wälder und Wiesen dienen als Verstecke, die Natur ist ein Zufluchtsort vor den Schrecken der sogenannten Zivilisation, doch die Gefahr bleibt stets präsent. Der oft skizzenhafte Stil des Zeichners illustriert dies gut: Wenig ist konkret, wenig bleibt haften, weil die nächste Flucht ansteht. Er spiegelt aber auch die Fragilität von Erinnerungen - die oft aus Schemen bestehen, aus bestimmten Details, nicht aus dem großen, allumfassenden Bild. An einer bemerkenswerten Stelle der Geschichte stellt Seliktar dazu die Darstellung der beiden Brüder gegeneinander, die sich jeweils anders an eine Begebenheit erinnern.

Permanent auf der Flucht, das haben Nico und Rolf Kamp erlebt. Seite aus dem Beitrag von Gilad Seliktar.
(Foto: Verlag C.H.Beck, München 2022)
Auch in der Geschichte über Emmie Arbel spielen Erinnerungslücken eine Rolle. "Ich erinnere mich nicht", sagt sie immer wieder. Yelin arbeitete dann mit verschiedenen Mitteln, lässt die Zeichnungen etwa bewusst unklar, verschwommen. Einige Lücken konnte aber auch das Team des Projekts schließen. So erinnert sich Arbel zwar nicht so genau, was nach der Befreiung in Bergen-Belsen geschah, als ihre Mutter völlig entkräftet starb. Doch durch Akteneinträge, die das Team recherchierte, kann die Zeit rekonstruiert werden.
Wo Erinnerungen verblassen, ist es gut, sie festzuhalten. So wie in diesem Buch, vor allem weil es sich auf die oft vernachlässigte Perspektive der Opfer stützt. Zwar gibt es Bildmaterial etwa aus Konzentrationslagern, doch dieses kommt nahezu immer aus Täterhänden. "Aber die Perspektive der Inhaftierten - wie sollen die fotografiert worden sein?", fragt Yelin. Vieles sei archiviert oder durch die akribischen Archive der Nazis belegt. "Aber die bildliche Perspektive der Verfolgten, über die Zeitzeugenarchive hinaus, gibt es nicht so häufig."
Das Buch "Aber ich lebe" kann Verlorenes natürlich nicht wiederbringen, aber sich ihm annähern. Gerade der enge Austausch mit den Überlebenden ist wichtig, denn es wird nicht mehr lange dauern, bis die letzten Zeitzeugen des Holocaust gestorben sind. Das Buch hält deren Erinnerung am Leben. Das Nebeneinander von künstlerischer Annäherung und historischer Genauigkeit bietet dafür eine neue Herangehensweise, die Schule machen soll - das Projekt Narrative Art & Visual Storytelling wird fortgesetzt, weitere Zeitzeugen sollen eingebunden werden, darunter auch Opfer anderer Völkermorde.
Am Donnerstag, 21. Juli, stellt Barbara Yelin das Buch in der Stadtbücherei Dachau vor.
Quelle: ntv.de