
Viele Menschen haben Angst vor der Zukunft.
(Foto: imago images/Manngold)
Corona hat offengelegt, wie gespalten unser Land ist. Debatten übers Impfen, das Klima oder korrektes Gendern tun ihr Übriges. Eine diffuse Angst greift um sich. Unsere Kolumnistin über unsere Gesellschaft und deren Zukunft.
Der Herbst ist da. Warum es immer die dunklen Monate sind, die uns unseren Ängsten näherbringen, liegt, glaube ich, in der Natur der Sache. Die hellen Monate vermitteln dieses wunderbare Gefühl von Aufbruch, Leichtigkeit und Hoffnung. Selbst die Corona-Krise schien in den Sommermonaten weitaus weniger dramatisch.
Doch wenn man Statistiken und Studien, wie aktuell der tiefenpsychologischen Untersuchung des Kölner Rheingold-Instituts, Glauben schenkt, liegt in unserer Gesellschaft, vorsichtig ausgedrückt, einiges im Argen. Viele Menschen sind unzufrieden, haben Angst vor der Zukunft und fühlen sich immer mehr isoliert. Die Folgen sind nicht selten der Rückzug ins Private, ins eigene Schneckenhaus.
Es hat nichts mit dem Herbstblues zu tun, wenn man offen sagt, man sei inzwischen vermehrt desillusioniert. Von der Politik. Der Zukunft. Unserer ganzen Gesellschaft. Das Gefühl der Ausgrenzung ist längst kein subjektives mehr. Nicht dazuzugehören, sich abgehängt zu fühlen, etwa, wenn man fragt, "Hey, wie kann es sein, dass die Mieten immer weiter steigen, aber die Löhne nicht?" - das ist kein Gefühl, das ist real.
Entgegen jeglicher Beteuerung herrscht in vielen Teilen im sogenannten Land der Dichter und Denker nicht nur Desillusion und Hoffnungslosigkeit, sondern eben auch die Wahrnehmung, isoliert zu sein. Ich habe mit Leuten geredet, die nur noch abwinken und sagen: "Ach, ich komm' aus Sachsen. Für viele sind die Bürger im Osten sowieso alle Nazis, Schwurbler, Covidioten, Rassisten, Antisemiten und und und."
Der Glaube an Europa bröckelt
Ist es wirklich pessimistisch, wenn man sich um die Zukunft dieser Gesellschaft sorgt? Wenn man der Meinung ist, der Traum von Einigkeit und Recht und Freiheit scheint ausgeträumt? In einer Welt, in der immer mehr Akteure mit autokratischen Anwandlungen die hart erkämpften Prozesse und Institutionen der freien Gesellschaft unterwandern, fällt es zusehends schwerer, nicht den Glauben zu verlieren. An unsere Gesellschaft. An Deutschland. An Europa.
Mit Sorge schaue ich ins benachbarte Polen, nach Ungarn oder auf den Streit zwischen Frankreich und Großbritannien. Und es ist verständlich, wenn Leute sagen: "Ich will gar nicht erst anfangen genau hinzusehen, weil ich nicht weiß, wo es aufhört. Weil es mir über den Kopf wächst. Weil die Probleme gefühlt überall sind." Und mit ihnen die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht. Darüber, was im Grenzgebiet zu Belarus passiert, in den vielen weltweiten Krisenregionen oder nach dem überstürzten Abzug in Afghanistan.
Deutschland - das sind alle Menschen, die in diesem Land leben, unabhängig davon, welchen ethnischen, politischen oder religiösen Hintergrund sie haben. Wie aber soll man sich als Gesellschaft begreifen, wenn stetig und von allen Seiten nur auf die Unterschiede geachtet und hingewiesen wird? Wir sind uns vor allem einig, dass wir uns nicht einig sind.
Wie soll man Menschen die Vorstellung eines gemeinsamen Traums verkaufen, wenn bekloppte Werbeslogans zum gelebten Alltag geworden sind? Geiz ist geil! Alles, was zählt, bin ich. Mein Haus, mein Auto, meine Instagram-Reichweite. Und bitte lassen Sie sich gefälligst belehren von all jenen, die behaupten, es immer besser zu wissen! Und bedanken Sie sich artig! Es fühlt sich an wie blanker Hohn für all jene, die kaum über die Runden kommen. Geiz ist nicht geil.
Genauso wenig, wie die Sorge, wie lange man sich noch die Miete leisten kann. Wie soll man Menschen den Gedanken der Einigkeit vorleben, wenn viele nur an sich denken? CO2: Ja, das ist ein Problem. Aber es betrifft nur die anderen. Politiker reden gerne von Einigkeit, Zusammenhalt und Stabilität. Welche Einigkeit sie wohl meinen? Die Einigkeit im Bundestag? Die Einigkeit einer ehrlichen Politik für alle Bürger?
Eine Gesellschaft, in der sich immer mehr Menschen ungehört, einsam und isoliert fühlen, ist nicht stabil, sie ist marode. Und wenn von Stabilität gesprochen wird: Welche Stabilität ist da gemeint? Die Stabilität des Euros, des wirtschaftlichen Wachstums? Die Stabilität der Europäischen Union?
Wir haben uns etwas vorgemacht
Deutschland steht mit seinem Dilemma nicht alleine da. Europa, die ganze Welt, scheint in Schieflage zu sein. In Zeiten, in denen wieder einmal nationale Gedanken um sich greifen und sich Politiker als Alleinherrscher aufspielen, wirkt die Betonung von den gemeinsamen Werten eher wie eine gut fabulierte Phrase.
Corona hat die Gräben, die schon lange durch unsere Gesellschaft gingen, vertieft, die Spaltung beschleunigt. Das Virus hat uns zwar gezwungen, Masken zu tragen, aber im Gegenzug hat es auch viele Masken von den Gesichtern heruntergerissen. Vor allem die Maske der Heuchelei. Das Virus hat uns gezeigt, dass wir uns als Gesellschaft in vielerlei Hinsicht etwas vorgemacht haben.
Wir teilen uns wieder vermehrt in DIE und WIR ein. Sei es die Hautfarbe, die Religion, die Art zu sprechen, ob man korrekt gendert oder ob man geimpft oder nicht geimpft ist. Man wird das Gefühl nicht los, dass es vermehrt um die Gegensätze geht. Entweder oder. Entweder du bist für oder gegen mich. Gut oder böse, schwarz oder weiß. Menschen werden diskreditiert, belehrt und ausgeschlossen. Oft ohne Beweise. Prozesse finden nicht mehr nur in Gerichtssälen, sondern vor allem auf Social Media statt. Wer es wagt das Wörtchen "aber" zu flüstern, wird zum Mittäter gemacht. Selbsternannte Welt- Sprach- und Kulturerklärer wollen die Gesellschaft von morgen diktieren.
Ich finde es richtig und wichtig, auf Missstände hinzuweisen. Unsere Demokratie ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Aber ich frage mich: Wann haben wir verlernt, miteinander zu diskutieren und dem anderen zuzuhören? Oder war das vielleicht schon immer so? Denn ob WIR oder DIE es nun wollen oder nicht: Eine gerechte Zukunft, in der alle - und gemeint sind wirklich alle Menschen - harmonisch leben, lässt sich nur gemeinsam gestalten.
Wir müssen einander die Hände reichen
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich jeder Einzelne von uns fragen muss, in was für einer Gesellschaft wir leben möchten. Extreme und radikale Ansichten waren noch nie ein Ausweg. Sie sind wie Brandbeschleuniger in einer ohnehin schon brenzligen Lage. Wer nicht mehr zuhört, kann nicht verstehen, was sein Gegenüber sagt. Wer meint, ein alleiniges Monopol auf die Wahrheit zu haben, ist nicht selten der Lüge anheimgefallen. Es ist an der Zeit, das wir endlich umdenken. So naiv es auch klingen mag: Wir müssen einander die Hände reichen, anstatt sie auszuschlagen, verzeihen, statt zu hassen, mehr zuhören, als immer nur zu reden.
Ich habe in den letzten Tagen beispielsweise mit Leuten gesprochen, die sich nicht impfen lassen wollen. Ich konnte ihre Ansichten nicht immer verstehen und stimme ihnen in vielerlei Hinsicht nicht zu. Aber ich habe zugehört. Ich verstehe ihre Sorgen und Ängste, ohne diese teilen zu müssen. Ich habe gemerkt, wie gut es ihnen tut, dass man zuhört, anstatt sich lustig zu machen oder sie wahlweise als Vollidioten oder Schwurbler zu beschimpfen.
Ich wünschte, wir würden alle ein Stück weit unser Ego runterschrauben. Stattdessen brüllen wir unsere Meinungen und Ansichten hinaus und einer kräht lauter als der andere, um sich Gehör zu verschaffen. Aber: "Wer stark ist, kann sich erlauben, leise zu sprechen."
Quelle: ntv.de