Wir sind Helden Das doppelte Supertalent
19.12.2010, 14:38 Uhr
Mit fast einem Viertel der Zuschauerstimmen gewählt: Freddy Sahin-Scholl.
Es ist vollbracht: Nach Jack-Russel-Terrier PrimaDonna hat Deutschland endlich wieder ein neues Supertalent. Statt vier Pfoten hat es zwei Stimmen. Sein Name: Freddy Sahin-Scholl.
Überraschung! Das Supertalent 2010 hat zwei Beine, bellt nicht und wedelt auch nicht mit dem Schwanz. Trotzdem kann es ein Kunststück wirklich tierisch gut: Es kann singen. Und das gleich für zwei. Mit anderen Worten: Der Sieger am Samstagabend war der Mann, der Arien sowohl im Bariton als auch im Sopran schmettern kann, der quasi Paul Boyle und Susan Potts in einem ist und der Opernintendanten von einer Halbierung der Personalkosten träumen lässt. Kurzum: Der Mann, der angesichts seiner Begabung seinen Doppelnamen vielleicht nicht ganz zufällig trägt - Freddy Sahin-Scholl.

Vielleicht waren zum Zeitpunkt der Entscheidung um 01.05 Uhr zu wenige aus seiner Zielgruppe noch wach? Andrea Renzullo.
Im Finale gab der Ex-Krankenpfleger ein weiteres Mal seine hymnische Eigenkomposition "Carpe Diem" im gemischten Doppel mit sich selbst zum Besten. Und egal, ob es nun tatsächlich in erster Linie an seinem Talent lag, an der vorweihnachtlichen Stimmung oder daran, dass Sahin-Scholl als letzter der zwölf Teilnehmer die Show bombastisch beschließen durfte - am Ende hatte er alle im Sack. Bruce Darnell bescheinigte ihm, "nicht von dieser Planet" zu sein. Sylvie van der Vaart erklärte: "Du bist bezaubert." Und Dieter Bohlen wurde, überwältigt von "der Magie der zwei Stimmen", gar philosophisch: "Supertalent ist eigentlich die Sendung, die aus Losern, sag ich mal, einen Hero macht, einen Helden, ja. Und ich hoffe, dass du morgen der Held bist hier."
Dass der Poptitan ihn damit mal eben beiläufig zum bisherigen Verlierer im Leben stempelte, dürfte dem 56-Jährigen mit Blick auf den Ausgang der Show und den Gewinn von 100.000 Euro nun reichlich egal sein. Mit 22,84 Prozent sprach sich am Ende fast jeder vierte Anrufer für das Stimmwunder aus Baden-Württemberg aus. Und wir mutmaßen mal, dass Herr Sahin später auf dem Weg nach Hause im tiefen Bariton ein "Wir sind" anstimmte, das Sopranist Herr Scholl mit einem hellen und glasklaren "Helden" vollendete.
"Das muss aus"
Dabei hätten sicher auch viele der anderen Finalisten das Zeug dazu gehabt. Bis zum Schluss hoffen durften der Hessen-Joe-Cocker Michael Holderbusch und der gehörlose Tänzer Tobias Kramer, die neben Sahin-Scholl zu den Top 3 der Zuschauer gehörten. Für sie reichte es jedoch ebenso nicht wie für die Müll-Trommler Bubble Beatz, das Bravo-Bübchen Andrea Renzullo oder die Sand-Malerin Natalya Netselya, die man wohl allesamt zum engeren Favoritenkreis zählen durfte. Auch für die "3. Generation" in Form ihres Ex-Sängers Darko Kordic und für den von Bohlen zum "8. Weltwunder" ausgerufenen Schluckspecht Stevie Starr geriet die Show am Ende zur Nullnummer.
The Winner takes it all - und so reicht ein Blick auf die weiteren Highlights des Finales im Schnelldurchlauf: Sylvie van der Vaart darf sich bereits jetzt einen Tag im Jahr 2020 rot ankreuzen, nachdem sie der achtjährige Dreikäsehoch und Michael-Jackson-Imitator Daniele Domizio schon mal vorsorglich zu seinem 18. Geburtstag eingeladen hat. Beim Auftritt von Ramona Fottner, die "Power of Love" von Jennifer Rush trällerte, musste Bruce Darnell zum ersten, aber nicht zum letzten Mal weinen. Auf die Ankündigung, Bubble Beatz würden mit Jacken auftreten, reagierte Sylvie entsetzt: "Nein, das muss aus." Andrea Renzullo und Ruddy Estevez machten nicht nur mit ihrem Gesang auf sich aufmerksam, sondern kreierten in ihren silbernen Klamotten auch einen neuen Astro-Look. Natalya Netselya pinselte diesmal die Geschichte von Lady Di in den Sand – von Bohlen leicht untertrieben als "Steigerung zum Penis-Maler" gepriesen. Bei Darko Kordic fiel Bruce in eine "Trantz". Pianist Thomas Lohse ging, um Supertalent zu werden, sogar joggen. Stevie Starr verputzte wieder einmal alles - von Feuerzeug-Gas über Büroklammern bis hin zu Billardkugeln. Für Michael Holderbusch erhob sich die Jury von ihren Sitzen. Und für Tobias Kramer übersetzte Dieter Bohlen "Hammergeil" mal eben frei interpretiert in die Gebärdensprache.
Apropos hammergeil - was hat diese Supertalent-Staffel nicht alles gesehen? Von halsbrecherischen Trapez-Akrobaten über durchgeknallte Selbstverstümmler bis hin zu zwielichtigen Hypnose-Experimenten. Umso erstaunlicher ist es, dass das Finale fast ohne all diese waghalsigen Attraktionen auskam - wenn man mal von Stevie Starr absieht, der aber vermutlich irgendwann im hohen Alter eher einem grippalen Infekt als einer Magen-Darm-Verstimmung erliegen wird. Angesichts der zeitlichen Parallele der Ausscheidungs-Shows zum tragischen Unfall bei "Wetten dass..?" wohl ein Zufall, im Hinblick auf die künftigen Staffeln aber vielleicht auch ein Fingerzeig.
Gelebte Integration
Jetzt sag aber nochmal einer, das Privatfernsehen leiste keinen Beitrag zum Gemeinwohl. Mehr gelebte Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und vermeintlichen Randgruppen als in diesem Supertalent-Finale geht ja wohl nicht. Die Namen der Teilnehmer Andrea Renzullo, Natalya Netselya, Darko Kordic, Stevie Starr, Freddy Sahin-Scholl, Daniele Domizio und Ruddy Estevez sprechen für sich. Das Duo Bubble Beatz kam aus der Schweiz. Tobias Kramer ist taubstumm und Thomas Lohse war einst lernbehindert. Bleiben noch der Hartz-IV-Empfänger Michael Holderbusch und Ramona Fottner, wobei letztere aus Bayern stammt und somit auch ein gewisses Handicap hat (da der Autor dieses Textes selbst aus Bayern kommt, darf er solche Scherze machen).
Ganz zu schweigen natürlich von den Moderatoren und der Jury. Dass Daniel Hartwich mit seinem Gewicht kokettiert, kennen wir ja schon. Dass aber Marco Schreyl mittlerweile nur allzu offen die Gerüchte über seine sexuelle Orientierung kontert, ist neu. Als er in der Final-Show vielsagend ein Geständnis ankündigte und den nächsten Satz mit "Ja, ich bin ..." begann, dachten einige wohl für einen Augenblick bereits, er mache jetzt den Wowereit. Über unsere Lieblings-Holländerin Sylvie brauchen wir ebenso kein Wort zu verlieren wie über Bruce, der sogar Bohlens missglückten Spruch, er müsse bei den Trommeln von Bubble Beatz doch Heimweh verspüren, galant mit den Worten verschmerzte: "Hey, Dieter, weißt du was, ich lieb dich immer noch."
Und offenbar nicht nur er: Mit abermals mehr als acht Millionen Zuschauern gewann das Supertalent am Samstagabend trotz starker Konkurrenz in den anderen Programmen locker den Quotenkampf. Die nächste Staffel ist damit definitiv gebongt. Doch vor das Supertalent hat RTL Deutschland sucht den Superstar gesetzt. Verschnaufen ist nicht - schon am 8. Januar geht es los. Gesucht wird dann der Nachfolger von, wie hieß er nochmal, ach ja, Mehrzad Marashi.
Quelle: ntv.de