Weihnachten, wie es noch nie war "Die kalte Zeit: Tatort Niederrhein"
21.11.2010, 10:58 Uhr
"Die kalte Zeit" ist im Leporello Verlag erschienen und kostet 9,90 Euro.
Können Sie Ihrem Vater vertrauen? Wissen Sie, was Ihr Mann im Schilde führt? Nach dieser Lektüre werden Sie Ihre Mitmenschen mit anderen Augen betrachten, denn die ach-so-heile Welt der Tannenbaum-Industrie bekommt hier eine gewaltige Beule in die Christbaum-Kugel.
Ich habe eigentlich keine Zeit zum Lesen: Viel Arbeit, zwei Kinder, intaktes Sozialleben, Sport, wann soll ich denn jetzt bitte auch noch lesen? Früher habe ich viel gelesen, als Kind sowieso, denn es hat mich unglaublich entspannt, in eine fremde Welt geführt, aber jetzt? "Aber jetzt", habe ich mir dann gedacht, "aber jetzt könnte ich ja mal wieder, denn es ist dunkel und kalt, das Sofa ruft und die 'Sti-hille Nacht, heiligeNacht' steht noch nicht ganz so nah vor der Tür." Das große Kind liest dem kleinen Kind etwas vor, der Mann ist busy, ich kann auch nicht jeden Abend weggehen, und Muskelkater habe ich außerdem. Also muss ein Buch her. Nur welches?
Von Idylle keine Spur
"Die kalte Zeit: Tatort Niederrhein" von Susanne Kliem ist da absolut zu empfehlen. Die Autorin lässt ihre Protagonisten in der Weihnachtszeit zwischen Tannenbäumen und Lebkuchenduft agieren - von Idylle jedoch keine Spur: Die guten Nordmann-Tannen fackeln ab, der despotische und mysteriöse Konrad Verhoeven verbrennt mit seinem Lebenswerk, Vandalismus in der Schonung, Krieg auf den Höfen und dazwischen jede Menge Liebe und Verrat, Vertrauen und Intrigen. Das Buch basiert auf einer wahren Geschichte, denn dass Tannenbäumen beispielweise die Spitzen gekappt werden, um sie unverkäuflich zu machen, ist keine perfide Erfindung der 45-jährigen Autorin, sondern in ähnlicher Art schon passiert. Die Strukturen, die hinter dem Weihnachtsbaum-Verkauf bestehen, sind alt, mafiös und über ganz Europa bis in den die tiefsten Tiefen Osteuropas verzweigt.
Wer würde das denken, wenn er jetzt durch die Stadt schlendert, schon mit den Gedanken bei den Weihnachtsgeschenken, der Frage danach, wie groß und wie teuer der Baum denn dieses Jahr sein darf und das alles mit der Untermalung viel zu lauter Leierkastenmusik: "Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter." Nach der Lektüre sieht man die Tannenbaumstände wahrscheinlich in einem ganz anderen Licht - doch so weit, dass man wie auf dem Berliner Breitscheidplatz eine Art "Plastik-Skulptur" statt einer stattlichen Tanne aufbaut, muss es ja nicht gleich gehen.
Die Handlung: Ein Brand in Herkenbroich, einem fiktiven Ort im Gebiet des Niederrheins, bringt die vorweihnachtliche, vermeintliche Idylle einiger dort ansässiger Familien komplett durcheinander. Der Verlust einer Tannenbaumschonung kurz vor Weihnachten bedeutet quasi den finanziellen Ruin der Familie Verhoeven, die nur vordergründig an einem gemeinsamen Strang zieht. Hier kocht jeder sein eigenes Süppchen, die Tochter des Toten hat völlig anderes im Sinn als ihr Mann und der war sich mit seinem nun verstorbenen Schwiegervater sowieso nicht einig. Die Hausherrin des Hofes ist eher wortkarg und ins Schicksal ergeben, und wenn nicht eine alte Liebe die Tochter des Hauses aus ihrer Lethargie reißen würde, dann würde auch die nächste Generation in diesen Strudel aus Schweigen, Betrug und Lieblosigkeit stolpern.
Der Kommissar geht um
Parallel zu den Geschehen auf dem Hof gibt es das bereits bekannte Paar Tom Zagrosek und Wiebke Blessing, ihres Zeichens Kommissare aus Düsseldorf und die sind so, wie man sich Ermittler vorstellt. Er ist der typische Lederjackenträger, nicht gerade der Held im Privaten, aber das Herz auf dem rechten Fleck, und sie gibt die Karrierefrau, aber nicht unangenehm. Selbst ihr steiler und schneller Aufstieg bei der Polizei kann einen wie Zagrosek nicht erschüttern, hat er doch auch genug mit seiner Freundin zu tun und mit der Klärung eines Falles, der ihm fast alles abverlangt.
Die Art, wie die Autorin die Handlungsstränge zusamen fließen lässt, ist spannend und meisterhaft. Bereits in ihrem Erstlingswerk "Theaterblut" zeigte sie, dass sie die Balance zwischen Recherche und Fantasie perfekt beherrscht. "Die kalte Zeit: Tatort Niederrhein" ist ein Buch, das man nur aus der Hand legt, weil es äußere Umstände verlangen - freiwillig würde man das nie tun. Zu interessant ist die Sozialstudie des nicht einfachen Lebens auf dem Lande, zu sehr möchte man wissen, wie es mit den Ermittlern weitergeht - beruflich und privat. Denn die beiden Figuren, die Susanne Kliem da geschaffen hat, dürften bald so bekannt sein wie die TV-Kommissare Batic und Leitmayr, Odenthal und Kopper, Derrick und Klein - und Kliem selbst macht Krimi-Ladys wie Ruth Rendell oder Liza Marklund Konkurrenz.
Die kalte Zeit ist ein tiefgründiges und spannendes Lesevergnügen für Jahresend-Skeptiker.
Quelle: ntv.de