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Wie weit gehst du, um zu überleben? "Im Canyon - 127 Hours"

Es soll ein normaler Tagesausflug werden: ein wenig Radfahren, Wandern und Klettern. Doch plötzlich sitzt Aron Ralston in der Falle - von einem Felsblock eingeklemmt, ohne Hoffnung auf Hilfe. Er hat nur eine Chance.

Aron Ralston (Foto: Michael O'Neill.

Aron Ralston (Foto: Michael O'Neill.

Es ist Samstag, der 26. April 2003. Aron Ralston, 27, Ex-Maschinenbauingenieur bei Intel, versierter Kletterer, Wanderführer und Abenteurer, ist auf einem Outdoor-Trip im abgelegenen Blue John Canyon in Utah. Am Nachmittag kommt er an eine Steilwand, die vier Meter in die Tiefe abfällt. Ein Felsbrocken, groß wie ein Busreifen, geschätzte 500 Kilogramm schwer, verkürzt den Weg in die enge Schlucht. Ralston testet, ob er festsitzt: Er sitzt fest genug. Ralston lässt sich hinab auf den Stein. Er hält, wackelt aber.

Ralston hangelt sich hinunter, bis er nur noch mit den ausgestreckten Armen daran hängt. Der Fels wackelt erneut. Er wackelt gefährlich: Instinktiv lässt Ralston los und landet auf einem runden Fels. Er schaut nach oben: Der Felsbrocken hat sich gelöst. Ein Schrecken durchzuckt ihn. Die nächsten drei Sekunden vergehen wie in Zeitlupe. Es ist, als wäre alles nur ein Traum. Ein Albtraum, denn am Ende zermalmt der Brocken Ralstons rechte Hand, quetscht seinen rechten Arm am Handgelenk ein - Daumen nach oben, Finger ausgestreckt. Ralston sitzt fest.

Es ist erst Seite 33 des Buches "Im Canyon" von Aron Ralston. Insgesamt hat es 375. Wie es ausgeht, verrät bereits der Klappentext: Ralston kann sich befreien - er amputiert seinen Arm. Allerdings ist er erst nach 127 Stunden wieder "frei". Und genau diese Zeitspanne ist es, die "Im Canyon" so lesenswert und besonders machen. 127 Stunden, die Ralston verändern. 127 Stunden, die den Leser fesseln und mit auf eine fast unbeschreibliche Gefühlsachterbahn nehmen.

Erster Tag

Danny Boyle verfilmte "Im Canyon" mit James Franco in der Hauptrolle. Herausgekommen ist: "127 Hours".

Danny Boyle verfilmte "Im Canyon" mit James Franco in der Hauptrolle. Herausgekommen ist: "127 Hours".

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Ralston wird der Ernst der Lage schnell klar: Niemand weiß, wo er sich befindet. Er hat kein Handy dabei und als er seinen Rucksack leert und auf die Dinge schaut, die er dabei hat - etwa eine Videokamera, ein Fotoapparat, ein Multitool, Burritos, ein leerer Camelbak - wird ihm schnell klar: Er ist in Todesgefahr, denn sein Wasservorrat besteht nur aus rund einem halben Liter. Zwei bis drei Tage kann er damit überleben. Bis Montagabend kann er es schaffen, wie er denkt. Am Montag muss er wieder arbeiten. Dann wird sein Chef merken, dass etwas nicht stimmt, vielleicht Ralstons Mutter anrufen. Am Mittwoch sollte dann aber spätestens der Suchtrupp unterwegs sein. Zu spät.

Er fängt an, mit der Klinge seines Multitools auf den Stein einzustechen, aber der ist zu hart. So kommt er nicht frei. Aber es beschäftigt ihn und hält ihn in der Nacht warm. An Schlaf ist eh nicht zu denken, schon allein wegen der unbequemen Haltung, die er einnehmen muss.

Zweiter Tag: Schwindende Optionen

Ralston wägt erneut seine Möglichkeiten ab, denkt an alte Wüstengeschichten über Dehydrierung und was sie bei einem Menschen anrichtet, auf welche Art er sterben könnte: Organversagen, innere Vergiftung, Hitzschlag, Herzversagen. Wäre der Tod durch eine plötzlich einsetzende Sturzflut angenehmer? "Langsam durch eine Unterkühlung ins Koma zu fallen oder noch die letzten Zuckungen zu spüren, wenn das Herz versagt?" Ralston ist sich unschschlüssig. Aber er weiß: Er will noch nicht sterben. Sein Überlebenswille zwingt ihn, an etwas anderes zu denken.

Aron Ralston wird in "127 Hours" gespielt von James Franco.

Aron Ralston wird in "127 Hours" gespielt von James Franco.

(Foto: picture alliance / dpa)

Er versucht, mit Kletterseilen und Karabinern eine Verankerung und ein Seilsystem zu bauen, um den Felsbrocken anzuheben. Es gelingt nicht, aber er kann sich so zumindest in sein mühsam mit einer Hand gebasteltes Seilgeflecht setzen. Nicht lange, da es schmerzhaft einschnürt, aber zumindest entlastet es ab und an die Beine.

Seine Gedanken schweifen wieder ab. Er weiß: Die rechte Hand stirbt ab. Droht ihm eine Blutvergiftung? Was sind die ersten Anzeichen dafür? Zum ersten Mal überlegt er ernsthaft, den Arm zu amputieren. Er denkt über die perfekte Stelle nach, will den Ellenbogen auf alle Fälle retten, obwohl er mit seinem Knorpel wohl am einfachsten zu durchschneiden wäre. Statt einer Bogensäge, die in Bürgerkriegs-Lazaretten dazu benutzt wurde, kann er nur auf zwei Klingen seines billigen Multitools zurückgreifen. Aus dem Trinkschlauch seines leeren Camelbaks und einem Karabiner bastelt er ein Tourniquet, das den Arm abbinden soll. "Gute Arbeit, Aron", lobt er sich. Durchziehen will er die Amputation aber nicht, noch nicht.

Dritter Tag: Durchhalten bis zum Morgen

Ralston ist vom Schlafmangel wie benebelt. Insekten umschwirren ihn. Er denkt kurz daran, sie zu essen. Er findet sich mit der Aussichtslosigkeit seiner Situation ab. Der Tod scheint unausweichlich. Eigentlich hatte er immer gehofft, der Sensenmann hole ihn schnell, aber dass er langsam regelrecht verrecken würde? Er beginnt sich abermals abzulenken, filmt sich selbst mit der Videokamera, bastelt sich aus Seilen, einer Plastiktüte und der kleinen Stofftasche des Fotoapparats behelfsmäßig "Kleidung", die ihn vor der Kühle der Nacht schützen soll. Selbstzweifel plagen ihn und er beginnt seine Habseligkeiten zu verteilen.

Vierter Tag: Ohne Wasser und Nahrung

"Dunkelheit. Kälte. Sterne. All. Zittern." Die Schlaflosigkeit lässt ihn nicht los. Er hat Durst, aber kaum noch Wasser. Zu allem Überfluss verschüttet er noch etwas von dem lebenswichtigen, kostbaren Nass. Er versucht, seinen eigenen Urin zu trinken. Sein "Schutzwall aus Disziplin und Penibilität, die die Verzweiflung in Schach gehalten hat", bröckelt. Er gibt sich noch rund 30 Stunden zu leben. "Der Countdown bis zu meinem Tod hat begonnen", so die erschreckende Erkenntnis.

Fünfter Tag: Zufluchtsstätte Trance

Ralston fühlt sich wie in einem Trancezustand und beginnt zu fantasieren: von eisgekühlten Getränken und Momenten, in denen er sie genossen hat - 7-Ups, Margaritas ... Das Zeitgefühl schwindet, verliert jede Bedeutung für ihn. Er denkt über seine Beerdigung nach, wer seinen Sarg tragen soll, ob es eine Feuerbestattung geben wird. Wer seine Asche und wo sie in alle Himmelsrichtungen verstreut wird. Er ritzt seine Grabinschrift in die Felswand. Farben explodieren in seinem Kopf. Er läuft aus der Schlucht - direkt in ein Wohnzimmer - und sieht einen kleinen Jungen. Es ist sein Sohn. Das weiß er sofort. Es ist wie ein Erweckungserlebnis: "Obwohl ich mich schon mit meinem Tod abgefunden hatte, glaube ich nun, dass ich leben werde." Der Junge hat alles verändert.

Sechster Tag: Erleuchtung und Euphorie

"Im Canyon" von Aron Ralston ist im Verlag Ullstein erschienen. (Foto: Michael O'Neill)

"Im Canyon" von Aron Ralston ist im Verlag Ullstein erschienen. (Foto: Michael O'Neill)

Erst, wenn wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun. Dieses Zitat von Tyler Durden (Brad Pitt) aus dem Film "Fight Club" überschreibt das Kapitel von "Im Canyon", das den nervenaufreibendsten Teil dieses Survival-Thrillers darstellt. Ralston entschließt sich, sich von seiner verfaulenden Hand zu trennen. Auf sieben Buchseiten beschreibt er diesen "Schnitt" heraus aus seiner Gefangenschaft. Die Schilderungen sind nichts für Leser mit Fantasie oder schwachen Nerven. Aber gerade diese Seiten zeigen, wie weit ein Mensch gehen kann, wenn sein Leben in Gefahr ist. Ralston beschönigt dabei nichts, er bleibt ehrlich und das macht das Ganze so erschütternd.

Die Befreiung schildert er als das "intensivste Gefühl", das er in seinem ganzen Leben hatte. Und der Leser ist hautnah dabei. Nicht nur bei der Amputation, sondern auch bei Ralstons Zweifeln, seiner Angst vor dem Tod, seinen Rückblicken in die Vergangenheit - in Zwischenkapiteln erzählt er, wie er zum Klettern kam, Bären begegnete, halsbrecherische Rekordjagden auf die Berge Colorados unternahm.

"Im Canyon", das die Vorlage für den Kinofilm "127 Hours" von Regisseur Danny Boyle und mit James Franco als Aron Ralston ist, bietet Einblick in die unglaubliche Gefühlswelt eines Todgeweihten, der sich selbst rettet, der 127 Stunden zwischen Hoffnung und kompletter Aufgabe, zwischen Aufbegehren, Verzeiflung und Mutlosigkeit pendelt und am Ende seine "zweite Geburt" feiert. "Im Canyon" ist ein Grenzerlebnis - voller Emotion und Intensität.

Quelle: ntv.de

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