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Vampire an der Macht In Berlinoir fließt Blut

Die Vampire herrschen - und sie sind nicht zimperlich im Kampf gegen Rebellen.

Die Vampire herrschen - und sie sind nicht zimperlich im Kampf gegen Rebellen.

(Foto: Reinhard Kleist / Tobias O. Meißner, Berlinoir, Carlsen Verlag, 2013)

Blut hält Berlinoir am Leben, denn die Stadt ist in der Hand von Vampiren, die den Lebenden den Lebenssaft aussaugen. Doch eine kleine Gruppe nimmt den Kampf auf. "Berlinoir" ist ein spannender wie blutiger Vampircomic, der mit politischen Anspielungen und prächtigen Stadtansichten unterhält.

Szerbenmund ist der mächtigste der Vampire von "Berlinoir".

Szerbenmund ist der mächtigste der Vampire von "Berlinoir".

(Foto: Reinhard Kleist / Tobias O. Meißner, Berlinoir, Carlsen Verlag, 2013)

Vampire machen gerade eine schwere Zeit durch. Während Zombies in Fernsehen, Kino, Comic und sonstwo fröhliche Erfolge feiern, bekommen die Blutsauger eine Wuschelfrisur verpasst und müssen die Herzen von Teenagern erobern. Viel ist nicht mehr übrig vom Schrecken der Dunkelheit, vom schaurigen Charme "Draculas" oder dem morbiden Horror "Nosferatus". Stattdessen wird den Vampiren ein romantisches Image verpasst.

Früher war das ganz anders: Da gab es bleckende Zähne, die sich lüstern in den Hals von Jungfrauen versenkten. Doch dann entdeckte Brad Pitt in "Interview mit einem Vampir" sein Gewissen und übte sich in Enthaltsamkeit (während Konkurrent Tom Cruise noch auf die gute alte Art seinen Blutdurst stillen durfte). Seit "Twilight" schließlich gibt es nur noch romantische Augenaufschläge, während man harmlos-kitschig mit einer Sterblichen Händchen hält. Aber ein Schicksal als Teenie-Lieblinge haben Vampire nun wirklich nicht verdient. Zum Glück gab und gibt es Filmemacher wie Robert Rodriguez und Quentin Tarantino, die mit "From Dusk Till Dawn" ordentlich das Blut spritzen ließen. Und es gibt den Comic-Helden "Hellboy", der sich immer mal wieder mit einigen wirklich lästigen Vampirgesellen rumschlagen muss.

Der sterbliche Niall hat sich in eine Blutsaugerin verguckt.

Der sterbliche Niall hat sich in eine Blutsaugerin verguckt.

(Foto: Reinhard Kleist / Tobias O. Meißner, Berlinoir, Carlsen Verlag, 2013)

Auch einer der bekanntesten deutschen Vampircomics feiert derzeit seine Wiederauferstehung: Der Carlsen-Verlag bringt "Berlinoir" von Autor Tobias O. Meißner und Zeichner Reinhard Kleist als Gesamtausgabe heraus. Enthalten sind die drei Alben, die zwischen 2003 und 2008 in der Edition 52 erschienen sind: "Scherbenmund", "Mord!" und "Narbenstadt". Die Bände wurden überarbeitet - Kleist korrigierte einige Panels, zeichnete ein paar ganz neu, außerdem wurde ein bisschen am Text gefeilt. Zudem wurde der Comic komplett neu koloriert - er ist jetzt dunkler, vor allem aber farbintensiver, was leuchtende Farben und wunderbare Rottöne ergibt.

Die Bäume gefällt, die Spree trockengelegt

"Berlinoir" spielt in einem fiktiven Berlin, das von Vampiren beherrscht wird. Die unsterblichen Blutsauger haben die jahrhundertelange Weltordnung umgekehrt, ihre dunklen Verstecke verlassen und die Macht über die Lebenden übernommen. Diese sind sozial abgesichert, müssen jedoch der herrschenden Klasse als Blutlieferanten dienen. Immerhin hält diese "freiwillige" Spende die Vampire davon ab, mordend umherzuziehen und sich selbst zu bedienen. In Berlinoir soll Ruhe und Ordnung herrschen, Chaos könnte die Vampirmacht untergraben.

Berlinoir ist eine Stadt zwischen Art déco und Monumentalarchitektur.

Berlinoir ist eine Stadt zwischen Art déco und Monumentalarchitektur.

(Foto: Reinhard Kleist / Tobias O. Meißner, Berlinoir, Carlsen Verlag, 2013)

Nicolas Szerbenmund ist der mächtigste der Vampire, die das Licht genauso meiden wie Holz (alle Bäumen in Berlinoir wurden gefällt) und fließendes Wasser (die Spree wurde umgeleitet und trockengelegt). Doch es gibt Widerstand gegen ihn und seine Clique: Eine kleine Gruppe Rebellen verübt immer wieder Anschläge auf die Blutsauger. Einer ihrer Anführer ist Niall. Doch seit einem Attentat fühlt er sich zu einer verführerischen Untoten hingezogen. Sie begegnen sich wieder und Nialls Wunsch, selbst ein Vampir zu werden, wird immer stärker.

Viel mehr soll über die Handlung nicht verraten werden. Die drei Alben setzen alle einen anderen Schwerpunkt, erzählen aber gleichzeitig eine übergreifende Geschichte, die noch einige Wendungen und interessante Figuren bereithält. Autor Meißner meidet dabei Klischees. Stattdessen breitet er die gesamte Palette aus, die Vampire in Büchern, Filmen und anderen Medien gespielt haben. Es gibt blutrünstige Monster, strategische Köpfe, die den Ausgleich mit den Lebenden suchen und ja, eine Prise Romantik ist auch vorhanden. Daneben setzt er interessante Akzente, etwa dass sich die Vampire in der Nachfolge von Lazarus und Jesus sehen, da auch diese nach ihrem Tod nicht nur geistig, sondern auch körperlich wiederauferstanden sind.

"Berlinoir" ist bei Carlsen erschienen, 160 Seiten, Hardcover im Albenformat, 24,90 Euro (D).

"Berlinoir" ist bei Carlsen erschienen, 160 Seiten, Hardcover im Albenformat, 24,90 Euro (D).

Besonders faszinierend ist jedoch, dass "Berlinoir" ein Schmelztiegel der Berliner Geschichte ist. Der Comic vermischt Anspielungen auf Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Kalten Krieg und geteiltes Deutschland. So erinnert etwa die Propaganda der Vampire mit ihren Fahnen, Losungen und Aufmärschen an Nationalsozialismus und DDR. Es gibt brutale Häscher mit Sonnenvisieren und stark befestigte Grenzanlagen. Es gibt Verhandlungen mit dem Botschafter der "sterblichen Bundesrepublik" und im dritten Teil wird Berlinoir schließlich durch eine Mauer in Nord und Süd geteilt.

Doch auch wenn es etliche Verweise auf das Nachkriegsdeutschland und das Berlin nach der Wende gibt - am deutlichsten sind die Anspielungen auf die letzten Jahre der Weimarer Republik, von der Mode dieser Epoche bis zu den Straßenkämpfen. Es ist eine Zeit zwischen Dekadenz und tiefer Armut, zwischen kultureller Blüte und politischer Radikalisierung. Die einen residieren in edlen Villen, die anderen hausen in den engen Gassen und schmutzigen Hinterhöfe, die an das alte Berlin erinnern. Die Vampire feiern wilde, blutige Orgien in Varietés, während das Volk der Lebenden der Diktatur mit Untergebenheit, Mitläufertum oder Aufstand begegnet. Immer wieder tauchen Motive aus Filmen dieser Zeit auf, aus "M - Eine Stadt sucht ihren Mörder", "Metropolis" und "Dr. Mabuse".

Orgien, Art déco und Varieté

Kein Wunder, dass sich Reinhard Kleists Zeichnungen am Szenenbild dieser Streifen orientieren. Berlinoir kommt wie eine Mischung aus dem Berlin der 1920er Jahre und Gotham City daher, zwischen Mietskasernen, Art-déco-Gebäuden und futuristischen Wolkenkratzern. Doch auch typische Berliner Gebäude finden sich verfremdet wieder, etwa das Tempodrom und die Philharmonie. Doch Kleist, der erst kürzlich den Deutschen Jugendliteraturpreis für seinen Holocaust-Comic "Der Boxer" erhielt, zeigt sich auch erneut als Meister dynamischer Figurenzeichnungen. Durch die neue, intensivere Kolorierung wirken die Charaktere nun noch geheimnisvoller, düsterer. Dabei kann man auch erkennen, dass Kleist seinen Stil zwischen 2003 und 2008 noch weiterentwickelt und verfeinert hat. Beeindruckend ist aber auch die vielgestaltige Panelaufteilung, die sich immer wieder vertikal orientiert oder mehrere Bilder um ein Mittelpanel gruppiert.

"Berlinoir" ist eine unterhaltsame Lektüre, die durch die Horror- und Fantasy-Elemente genügend Spannung zu erzeugen weiß und Vampirfans begeistern dürfte. Aufmerksame Leser werden zudem Freude an den vielfältigen Anspielungen auf Geschichte und Kultur Berlins haben. Besonders beeindruckend ist jedoch die graphische Umsetzung, die viel Freude am Detail verrät. Ein Verdienst kann man "Berlinoir" ohnehin nicht mehr nehmen: Die Blutsauger haben keine Wuschelfrisur. Und Händchen werden auch nicht gehalten.

"Berlinoir" bei Amazon bestellen.

Quelle: ntv.de

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