"Ist es nicht wundervoll...? Judith Kerr wird 85
13.06.2008, 00:00 UhrWenn Judith Kerr von ihrer Flucht vor den Nazis aus Berlin erzählt, klingt sie fast wie eine Märchenoma. "Ich sah aus dem Fenster über die Dächer von Paris und sagte zu meinem Vater: "Ist es nicht wundervoll, ein Flüchtling zu sein."" Erst Jahre später wurde der deutsch-stämmigen Kinderbuchautorin und Zeichnerin klar, in welcher Gefahr sich ihre jüdische Familie, ja ganz Europa, befand. In ihrem Jugendbuch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" arbeitete sie die Erfahrungen auf und wollte vor allem ihren eigenen Kindern von der Flucht im Jahr 1933 berichten.
Das Buch wurde nach dem Erscheinen 1971 zum Bestseller und später auch mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Der Erfolg überraschte die Autorin, die heute die britische Staatsbürgerschaft hat. "Ich war erstaunt, denn ich dachte mir, wer um alles in der Welt will solch ein Buch lesen", sagt Kerr, die an diesem Samstag 85 Jahre alt wird.
Eine Art Familientreffen
Der Roman, der das Leben Judith Kerrs, der Tochter des deutschen Theaterkritikers und Nazi-Gegners Alfred Kerr, widerspiegelt, war jedoch so erfolgreich, dass er Pflichtlektüre an deutschen Schulen wurde. Es folgten die Verfilmung sowie die Fortsetzungen der autobiografischen Romantrilogie "Warten bis der Frieden kommt" und "Eine Art Familientreffen".
Trotz ihrer Flucht, zuerst in die Schweiz dann nach Frankreich und England, und dem Grauen des Holocaustes fühlt Kerr keine Wut auf Deutschland. "Schon früh habe ich von Konzentrationslagern erfahren, weil Menschen um uns herum verschwanden. Aber realisiert haben das alle erst viel später." Heute sollten sich gerade die jungen Menschen in Deutschland keine Vorwürfe wegen des Zweiten Weltkriegs machen.
"Etwas gruselig"
Hin- und wieder sei sie in Deutschland, Freunde besuchen oder zu Preisverleihungen, erzählt Kerr. Es sei dann schon etwas "gruselig", die Orte zu sehen, an denen sie mit ihrem Bruder vor der Flucht schöne Zeiten erlebte. So zum Beispiel am Bahnhof Grunewald, wo später Juden in Konzentrationslager deportiert wurden.
Kerr fühlt sich als Britin, schließlich wohne sie seit mehr als 70 Jahren in England. 1935 kam sie nach London und absolvierte dort die Kunsthochschule. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie beim Roten Kreuz. Nach dem Krieg war Kerr als Redakteurin und Lektorin für den Sender BBC tätig, wo sie ihren Mann, den britischen Fernsehautor Nigel Kneale, kennenlernte. Gleichzeitig schrieb und illustrierte sie zahlreiche Kinderbücher, darunter "The Tiger Who Came to Tea".
Keine Pause zum Geburtstag
"Das Zeichnen ist meine wahre Leidenschaft", erklärte Kerr, die auch jetzt wieder an einem Bilderbuch arbeitet. Diese Leidenschaft überträgt sich wohl auch auf die Kinder, die ihre Bücher lesen oder vorgelesen bekommen. Ihre Bände über den Kater Mog wurden im deutschsprachigen Raum weit über eine halbe Million Mal verkauft.
Zu ihrem 85. Geburtstag gönnt sich die Künstlerin keine Pause. Sie werde arbeiten, und ihre Tochter werde zum Mittagessen kommen, der Sohn bleibe in Rom. "Bei uns wurden Geburtstage nie besonders gefeiert", lacht Kerr, "und in Großbritannien wird das auch nirgends öffentlich groß gewürdigt - das passiert erst, wenn man tot ist".
Von Annette Reuther, dpa
Quelle: ntv.de