
Erholung? Nicht einmal, wenn es bergab geht.
(Foto: Ernst Lorenzi)
250 Kilometer lang, 5500 Höhenmeter, 4 Alpenpässe, knapp 100 Kilometer nur bergauf: Das ist der Ötztaler Radmarathon. Er lockt seit 1982 Tausende Radverrückte. Im Kampf gegen die Natur und den eigenen Körper will jeder seine Grenzen testen. Wieviele Qualen erträgst du?
Ich habe einen Traum - und ich habe schlecht geschlafen. Mich im Bett gewälzt. Bin schweißgebadet aufgewacht. Schüttelfrost. Muskelzucken. Knieschmerzen. Bauchgrummeln. Reizdarm. Doch jetzt ist alles vergessen. Nur Lampenfieber ist noch übrig. Adrenalin schießt durch meinen Körper. Ich nehme die Massen um mich herum nicht wahr. Ich höre nicht die laute Musik, die aus den übergroßen Boxen am Straßenrand dröhnt. Ich bin wie in Trance. Weggetreten. Wie ein Rodler oder Bobfahrer habe ich die Augen geschlossen, in mich gekehrt, versuche mich auf das zu konzentrieren, was jetzt kommt. Was vor mir liegt - oder besser: was vor mir aufragt. Bedrohlich und angsteinflößend. Ich zwicke mich und weiß es dann ganz genau: Ja, ich bin beim "Ötztaler", dem wohl bekanntesten und härtesten Radmarathon der Welt.
Ih stehe am Start in Sölden wie Tausende anderer Fahrer. Es ist noch früh am Morgen. Es ist kühl, aber die Wetterfrösche sagen einen launigen Tag voraus: Sonne und Temperaturen um 20 Grad. Perfektes Radwetter also. Hoffentlich haben sie auch Recht.
Ich drehe mich, sauge die Atmosphäre noch einmal in mich auf. Es riecht nach Vietnam-Salbe und Schlangenöl. Wo ist die frische Bergluft, wenn man sie braucht? Die Sekunden werden heruntergezählt, der Starter hebt seine Pistole, die ersten Klickpedalen rasten ein. Ein Schuss und langsam bewegt sich das Peloton vorwärts. Viele schieben ihr Rad noch. Ihren besten Freund für die nächsten rund 12 Stunden. Das ist der Schnitt, den Hobbyfahrer wie ich anstreben. Wenn alles Bombe läuft, der Hungerast ebenso wegbleibt wie der kleine Mann mit dem dafür umso größeren Hammer, dann sind vielleicht auch zehn Stunden drin. Die Hoffnung stirbt zuletzt, was zählt ist die Mission. Und die hat gerade begonnen.
Ich schwinge mich auf meinen Leichtbausattel. 67 Gramm. Danke Selle Italia, denn am Berg zählt jedes Gramm. Bequem ist was für Weicheier.
Warum tue ich mir das an?
Die ersten Pedaltritte gehen wie von selbst. Achtung, Junge! Wehe, wenn sie losgelassen werden. Die Meute hetzt davon wie ein angeschossenes Tier - wenn sie könnte. Aber die Straße ist halt nicht unendlich breit. Ich versuche mich aus dem Gedränge herauszuhalten. Nicht schon irgendwelche Unfälle am Start. Es kommen schließlich noch 250 Kilometer. 5500 Höhenmeter. 4 Alpenpässe. Meine Vorfreude ist wie weggeblasen. Warum tue ich mir das hier an, frage ich mich still. Dann fällt es mir ein: Ich habe eine Doku im Fernsehen über den "Ötztaler" gesehen. Gestochen scharfe HD-Bilder zeigen in Sonne badende Alpengipfel, auf denen sich Ameisen gleich winziger Fahrradfahrer die Kurven und Kehren zum Gipfel hinaufwinden. Dazwischen immer mal kurze Interviews von überglücklichen Finishern im Ziel.
Sie reden von "den eigenen Schweinehund bezwingen", "die eigenen Grenzen austesten", von "der Lust sich und seinen Körper zu quälen". Ehemalige Radprofis, die immer wieder beim "Ötztaler" mitfahren, erzählen von der "unglaublichen Stimmung". Es sei "fast wie bei der Tour", sagt da einer, den ich nicht kenne. "Fast wie bei der Tour" … Und da ist sie, die Gänsehaut, die einem wohligen Schauer vorauseilt. Der Anflug eines zufriedenen Lächelns, wie das eines Sprinters, der auf dem Champs Elysee als Erster über den Zielstrich braust. Da streckt sich der Rücken, die Hände gehen nach oben, die Fäuste sind geballt - wie bei den Siegern von Paris-Roubaix oder der einstmals ausgetragenen Internationalen Friedensfahrt, mit der ich großgeworden bin. Meine Helden hießen Raab, Ampler, Ludwig und dann natürlich Ullrich. "Quäl dich, du Sau!"
Es lebe das Kirmes-Ritzel
Da ist er auch schon, der erste Berg. Wie eine Wand steht er plötzlich vor mir. Gerade noch in schönen Erinnerungen schwelgend, werde ich unsanft in die harte Realität zurückgeholt. Jetzt heißt es nicht mehr "Kette rechts", jetzt heißt es "Kirmes-Ritzel". Ötz-Kühtai: 18,5 Kilometer lang, 1169 Höhenmeter, 9 Prozent durchschnittliche Steigung, 17,5 Prozent maximal. Der Aufgalopp für den Rest.
Er geht ganz gut. Ich finde eine fast freie Spur, kann mein Tempo fahren. Bleibe im Sattel sitzen, den Blick stur nach vorn gerichtet, kurbele ich den Berg hinauf. Irgendwie hatte ich mir das schwerer vorgestellt, denke ich und bereue es sofort. Die Plätze, die ich bergauf gut mache, gebe ich bergab wieder her. Ich liebe es, Gipfel zu erklimmen. Aber wenn es wieder runtergeht, bin ich ein Schisser. Ich hoffe, dass die Bremsen die vielen Abfahrtskilometer, die noch vor mir liegen, durchhalten.
Als es wieder bergan geht, bin ich fast schon erleichtert. Meine Hände sind verkrampft. Das lange Bremshebelziehen hat seine Spuren hinterlassen. Egal, Innsbruck-Brennerpass-Sterzing: Darauf gilt es, die ganze Aufmerksamkeit zu richten. Ich rufe mir die Kennziffern ins Gedächtnis: Der Anstieg ist 37 Kilometer lang, 777 Höhenmeter, 3 Prozent durchschnittliche Steigung und 12 Prozent maximal - ein Klacks. Das hab ich auch zu Hause im Thüringer Wald. Gut, die 37 Kilometer Länge sollte man nicht unterschätzen. Das weiß ich jetzt. Nie kam mir ein Anstieg länger vor. Stetig aufwärts. Die Sonne zeigt sich in ihrer schönsten Pracht. Aus ihrer wohligen Wärme ist eine brennende Hitze geworden. Ich sehe die ersten Radler ihre Räder schieben. Das Wasser läuft ihnen in Sturzbächen von der Stirn, die Helme baumeln an den Lenkern.
Das spornt an. Besser sein als andere. Auch wenn die meisten schon im gesetzten Alter sind. Aussehen wie Frührentner. Egal. Die haben unbegrenzt Zeit zum Trainieren. Ich nicht. Die 250 Kilometer, die der "Ötztaler" misst, bin ich nie zuvor gefahren. Eine der vielen Unbekannten auf dieser Tour der Qualen. Meine Trainingsrunden im Thüringer Wald sind meist nur 60 bis 80 Kilometer lang. Für mehr reicht die Zeit nicht.
Auf Pantanis Spuren
Ach, wäre ich doch schon Frührentner und hätte Zeit für richtiges Training. Vielleicht sähe ich dann auch nicht aus wie ein Sprinter, sondern wie ein Bergfloh. Ein Asket auf zwei Rädern, wie Marco Pantani. Mit dem habe ich jetzt eines gemeinsam: Ich kämpfe mich mittlerweile den Jaufenpass hinauf. 15,5 Kilometer, 1115 Höhenmeter, 7 Prozent durchschnittliche Steigung, 12 Prozent maximal. Pantani fuhr den Pass einst bei einer seiner ersten Giros. Ob er da wohl auch seinen unnachahmlichen Stil gelernt hat? Umschauen. Raus aus dem Sattel. Antreten. Immer wieder anzupfen, das Tempo verschärfen. Das war nicht nur für Jan Ullrich Gift, es wäre auch mein Untergang.
Mittlerweile merke ich jeden gefahrenen Kilometer in den Beinen. Zehn Kehren sind zu bewältigen. Ich versuche mitzuzählen, aber es gelingt nicht. Soll ich noch einmal von unten anfangen? Ich muss kurz lachen. Der Fahrer neben mir schaut herüber. Einen Euro für seine Gedanken. Er trägt ein griechisches Trikot. Vielleicht doch lieber eine Drachme? Ich muss wieder lachen. Der Grieche geht aus dem Sattel und ward nicht mehr gesehen.
In mir keimen die ersten Zweifel, ob ich das Rennen im Ziel beenden werde. Rennen? Lächerlich. Mein Fahrradcomputer zeigt Stundenkilometerzahlen, die eine Oma mit Gehhilfe überbieten könnte. Es sind noch knapp 100 Kilometer bis ins Ziel - und noch etwa 50 bis zum letzten Berg, das Timmelsjoch. Für Erleichterung sorgt diese Erkenntnis jedoch nicht.
Auch weil der Wind in der Abfahrt merklich auffrischt und böig mal von der Seite, mal von vorn die Abfahrt noch erschwert. Zehn Kehren quietschende Bremsen. Zehn Kehren Panik. Zehn Kehren zittrige Beine. So müssen sich Marathonläufer oder Iron Men fühlen, wenn Kopf und Geist zwar noch willig sind, das Fleisch dafür umso schwächer. Gedanken an die Tour 2003 werden wach, als auf der Etappe nach Gap in einer Abfahrt sich bei Joseba Belokis Rad der Mantel von der Felge löst und der Spanier stürzt. Sein qualvoller Schrei und sein schmerzverzerrtes Gesicht drängen sich in mein Bewusstsein. Hüftbruch. Er fuhr nie wieder so stark.
Alles nur ein Traum?
Und dann kommt es: das Timmelsjoch. Der letzte Anstieg. Die Zeit spielt keine Rolle mehr. Und wenn ich das Rad schieben muss. Oder tragen. Oder beides abwechselnd. Ankommen ist alles, was jetzt noch zählt. Die B-Note ist völlig egal. Schönheitspreise gewinnt hier und jetzt keiner mehr. Die Akkus sind leer. Jetzt geht’s über die Schmerzgrenzen weit hinaus. Das Timmelsjoch von St. Leonhard kommend, heißt 28,7 Kilometer Anstieg, 1742 Höhenmeter, 8 Prozent durchschnittliche Steigung und 14 Prozent maximal. 15 Kehren pure Willenskraft. Die Gedanken sind frei. Der Traum vom Fliegen, unendlicher Freiheit - hier wird er wahr.
Langsam und immer langsamer. Umdrehung für Umdrehung. Wieder und immer wieder. Das Kirmes-Ritzel ist schon längst nicht mehr klein genug. Statt auf ein paar Gramm zu verzichten, hätte ich lieber den Dreifach-Kranz montieren sollen. Zu spät. Es muss auch so gehen. Es muss. Es muss … Irgendwo ertönt ein leises Klingeln. Es wird lauter. Vertreibt die dunklen Gedankenwolken. Ich schüttele meinen Kopf, will es nicht wahrnehmen. Ich bin noch nicht so weit, noch nicht am Ziel. Zu spät: Ich bin wach. Der Wecker hat seinen unerbittlichen Dienst getan. Ich blinzele. Das ist nicht das Timmelsjoch, das ist mein Schlafzimmer. Ich drücke den Wecker aus, dann schleudere ich ihn in die Ecke. Wieso gerade jetzt? Alles nur ein Traum? Alles nur ein Traum! Irgendwie schmerzen die Beine trotzdem, der Rücken tut auch weh. Schade. Aber im nächsten Jahr ganz bestimmt. Die Anmeldung liegt schon bereit. Möge das Los diesmal mit mir sein. Denn: "Ich habe einen Traum …"
Ernst Lorenzi hatte auch einen Traum. Er wollte ein Buch über den "Ötztaler" herausbringen. Er hat seinen Traum erfüllt. "Ich habe einen Traum" heißt es und umfasst nicht nur zahlreiche Geschichten rund um die Entstehung des wohl bekanntesten Radmarathons der Welt, sondern auch ein Roadbook und die Höhenprofile des Rennens. Auf zahlreichen Bildern, zum Teil im Panoramaformat, lässt sich erahnen, wie die Faszination des "Ötztalers" auf die Radsportgemeinde zustande kommt. Tipps zum richtigen Training und zur allgemeinen Vorbereitung runden das Paket ab, das nicht nur etwas für Radler ist, sondern auch etwas für unverbesserliche Träumer.
Quelle: ntv.de