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"Big Hoops", nicht "Big Boobs"! Geständnisse mit Nelly Furtado

Ein "unzerstörbarer Geist": Nelly Furtado.

Ein "unzerstörbarer Geist": Nelly Furtado.

(Foto: Richard Bernardin / Universal Music)

Sie gehört zu den erfolgreichsten Sängerinnen unserer Zeit. Sechs Jahre nach ihrem Welterfolg "Loose" legt Nelly Furtado mit "The Spirit Indestructible" ein neues englischsprachiges Album vor. Im n-tv.de Interview spricht die Kanadierin mit portugiesischen Wurzeln ebenso gut gelaunt über Erfolg, Fußball und den arabischen Frühling wie über Missverständnisse und Peinlichkeiten.

n-tv.de: Dein neues Album, der erste Song darauf und deine neue Single heißen "The Spirit Indestructible" (etwa "Der unzerstörbare Geist"). Das ist ein ziemlich starker, vielleicht sogar programmatischer Titel. Was meinst du damit?

Nelly Furtado: Dieses Album ist, als würde es eine Geschichte erzählen. Seit meinem letzten englischsprachigen Album sind sechs Jahre vergangen. Und ich habe sehr viel gelebt in dieser Zeit. (lacht) Auf den Titel bin ich eigentlich durch ein Buch gekommen, das ich gelesen habe - noch bevor ich den zugehörigen Song überhaupt hatte. Den habe ich dann an meinem ersten Tag mit Rodney Jerkins (US-amerikanischer Songwriter und Produzent, Anm. d. Red.) geschrieben, der mein vielleicht wichtigster Mitstreiter bei diesem Album war. Ich glaube daran, dass wir so etwas wie einen unzerstörbaren Geist haben. Und dann sind auch noch so viele Dinge auf der Welt passiert, während ich an dem Album gearbeitet habe. Vom arabischen Frühling über Occupy und die Finanzkrise bis hin zu Katastrophen wie der in Japan - das war eine stürmische Zeit.

Ein anderer Song und die erste Single des Albums ist "Big Hoops (The Bigger The Better)". Es ist ein bisschen peinlich, aber ich muss zugeben, dass mir dabei als erstes "Big Boobs" in den Sinn gekommen sind …

(lacht) Ja, ich habe auch gehört, dass es im Deutschen einen Ausdruck dafür gibt, der ähnlich klingt (sie meint vermutlich Hupen, Anm. d. Red.).

Große Ohrringe trägt sie noch heute gerne.

Große Ohrringe trägt sie noch heute gerne.

(Foto: Mary Rozzi / Universal Music)

Das hattest du aber sicher nicht beabsichtigt …

Nein. Manchmal gibt es in meinen Songs schon Doppeldeutigkeiten. Aber bei "Big Hoops" geht es um die großen, kreisrunden Ohrringe, die ich in meiner Jugend getragen habe. Sie gehörten meiner älteren Schwester. Ich habe sehr viel R’n‘B- und Hip-Hop-Musik gehört und auch die entsprechende Mode getragen - die großen Ohrringe, Baggy Jeans, Flanellhemden und was sonst noch dazugehörte. Und ich habe gerappt und Hip-Hop-Rhymes gesungen. Wenn ich bei einer Party am Mikrofon stand, hatte ich immer das Gefühl, der Auftritt wird umso besser, je stärker man Haltung und Selbstvertrauen ausstrahlt. Dieser Song zollt also meinen frühen musikalischen Einflüssen Respekt.

Deine bisherigen Alben waren sehr unterschiedlich, aber jedes für sich doch immer in sich geschlossen. Dagegen finde ich, dass "The Spirit Indestructible" musikalisch enorm vielfältig ist - das reicht von kräftigen Nummern wie dem Titelsong über coole Beats wie bei "Somehow" bis hin zu zarten Songs wie "End Of The World". Wolltest du die Spannbreite diesmal absichtlich weit fassen?

Ja. Aber ich habe an dem Album eben auch drei Jahre lang gearbeitet. Am Ende hatte ich alle möglichen Stilrichtungen durch. Ich habe die Songs aus insgesamt 60 Liedern ausgesucht. Bei dieser großen Auswahl konnte das Album nur eine Art Sammelcharakter haben. Das ist aber auch, worum es für mich bei Musik geht. Ich meine: Ich bin damit aufgewachsen, Posaune zu spielen - in einer Band!

Du meinst, du willst dich da nicht festlegen lassen …

Ja, mir ging es bei Musik schon immer um das Zusammenspiel, das Erforschen und das Überschreiten von Grenzen. Ich finde nicht, dass Musik in eine Schublade passen muss. Zugleich denke ich aber, dass dieses Album durch meine Stimme zusammengehalten wird. Es ist die Geschichte, die es zu einer runden Sache macht. Es geht um Leidenschaft, um Blut, Schweiß und Tränen und darum, hinzufallen und wieder aufzustehen. Und ich bin froh, dass es gleichzeitig auf der musikalischen Ebene all diese verrückten Beats und coolen Momente gibt - nicht immer gehen die Aussage und die Musik eines Songs Hand in Hand. Und schließlich wollte ich, dass das Album ein wenig roh und unausgewogen klingt - weil das Leben unausgewogen ist. (lacht)

Dein Album "Loose" vor sechs Jahren war dein bisher größter Erfolg. Danach hast du mit "Mi Plan" ein Album auf Spanisch aufgenommen, bei dem von Vornherein klar war, dass es kommerziell dahinter zurückbleiben muss. Wie wichtig ist dir Erfolg?

Das Allerwichtigste für mich ist es, das zu machen, was ich machen will, weil ich überzeugt bin, dass nur das einen glücklich machen kann. Ich bin keine kommerziell … (sie überlegt, Anm. d. Red.), kommerziell sehr intelligente Künstlerin. (lacht) Mit dieser Gabe wurde ich nicht gesegnet. Dafür wurde ich mit Individualität gesegnet. Trends interessieren mich nicht. Es ist mir ziemlich egal, ob das, was ich mache, ins gerade aktuelle Musikgeschehen passt oder nicht. Ich versuche lieber vorauszusehen, was vielleicht in fünf Jahren angesagt ist, als auf einen bereits fahrenden Zug aufzuspringen. Ich glaube, das zeichnet mich als Musikerin aus. Anstatt mir groß Gedanken über den Markt zu machen, messe ich mich an mir selbst - weil ich ein Album für mich mache. Meine Musik erzählt die Geschichte meines Lebens. Das ist wie ein Tagebuch.

Wichtiger als Erfolg ist ihr ihre künstlerische Freiheit.

Wichtiger als Erfolg ist ihr ihre künstlerische Freiheit.

(Foto: Universal Music)

So oder so hast du den "Latin Grammy" für "Mi Plan" erhalten - nur einer von unzähligen Preisen, die dir schon verliehen wurden. Was machst du denn mit all den Trophäen - stehen die bei dir auf dem Regal, sind die in Kisten verpackt oder gar irgendwo auf dem Dachboden?

(lacht) Ich sage es dir: Die meisten davon hat meine Mama. Sie ist so süß! Sie hat für all diese Dinge ein spezielles Zimmer eingerichtet. Ich glaube, Mütter sollten diese Sachen aufbewahren. (lacht) Ich selbst habe nur ein oder zwei der Preise bei mir. Meinen Grammy bewahre ich in einem Pappkarton im Schrank auf. Ist das nicht traurig?! Ich glaube, ich bin da eher bescheiden und fände es komisch, den groß auszustellen. Einige Produzenten, die ich getroffen habe, sind da anders. Sie reihen ihre Sachen direkt vor einem auf. Das ist dann schon beeindruckend. Ich hoffe, es kommt der Tag, an dem ich das auch hinkriege.

Deine Geburtsstadt Victoria soll mittlerweile sogar den "Nelly-Furtado-Tag" ins Leben gerufen haben - jedes Jahr zum Frühlingsbeginn am 21. März. Was geht denn da ab?

(lacht) Das ist ein wirklich lustiger Mythos. Meines Wissens war das eine einmalige Sache. Aber die Welt denkt anscheinend, dass das ein fester Jahrestag ist. Hey, wenn das so sein soll, habe ich kein Problem damit. (lacht)

Ach, so ist das. Warst du denn damals dort?

Ja, ich war in Victoria. Und das war schon etwas ganz Besonderes. Als ich ein Kind war, war der Frühlingsbeginn immer mein Lieblingstag. Da bin ich raus in den Hof gegangen und habe getanzt, um den Frühling zu begrüßen. Ich war ein ganz schönes Hippie-Kind. (lacht) Und dann machen sie ausgerechnet zum Frühlingsbeginn dort einen "Nelly-Furtado-Tag". Sie hatten sicher keine Ahnung davon. Das war Zufall. Hinzu kam noch, dass ich dann auf dem Stadtplatz war - einer der Plätze, auf denen ich meine ersten öffentlichen Auftritte als Kind hatte. Ich habe ja in einer portugiesischen Folklore-Gruppe getanzt, Ukulele gespielt und dazu auf Portugiesisch gesungen. Das war sehr ergreifend, fast schon surreal und irgendwie auch peinlich. (lacht) Ich habe mich etwas geschämt, aber natürlich war das eine wundervolle Geste.

Gegen einen alljährlichen "Nelly-Furtado-Tag" hätte sie nichts einzuwenden.

Gegen einen alljährlichen "Nelly-Furtado-Tag" hätte sie nichts einzuwenden.

(Foto: Mary Rozzi / Universal Music)

Du kommst ja nicht gerade aus reichen Familienverhältnissen …

Nein, ganz und gar nicht.

Du hast einmal gesagt, das hätte dich sehr geprägt. Inwiefern?

Ich glaube einfach: Einmal Arbeiterklasse, immer Arbeiterklasse. Welcher Klasse du entstammst, hat meiner Ansicht nach großen Einfluss darauf, wie du auf die Welt blickst und wie du dein Leben lebst. Zu denken, dass es nicht so ist, wäre naiv. Ich meine damit nicht, dass wir als Menschen an sich unterschiedlich wären. Aber es formt ein wenig deine Arbeitsmoral, deinen Charakter und andere kleine Details. Dass ich arbeiten musste, während ich aufgewachsen bin, und meine Eltern hart arbeiten gesehen habe, war für mich wirklich essenziell. Heute könnte ich meiner Familie nicht abgehoben gegenübertreten - sie würden das gar nicht zulassen.

Sie hilft dir also, geerdet zu bleiben …

Ja. Und ich akzeptiere das inzwischen. Es gab eine Zeit, in der ich unsicher war - als ich mein zweites Album "Folklore" gemacht habe. Da blickte ich ja auf einen gewissen Erfolg zurück, hatte einen Grammy gewonnen und mit meiner Musik einiges Geld verdient. Und ich stellte mir die Frage: "Heißt das, dass ich jetzt kein Teil der Arbeiterklasse mehr bin?" Aber auf "Folklore" habe ich festgestellt, dass ich es immer noch bin. (lacht) Ich musste mit dieser Frage von Zugehörigkeit und Identität kämpfen. Jetzt, mit dem neuen Album, habe ich meinen Frieden mit allem gefunden. Ich verstehe viel mehr, wie die Dinge laufen. Deshalb habe ich auch Songs über meine Zeit als Teenager geschrieben - jetzt kann ich diese Zeit vorbehaltlos feiern.

Manche erinnern sich sicher noch an dich in den Videos etwa zu "I’m Like A Bird" oder "Turn Off The Lights" aus deinem ersten Album "Whoa, Nelly!". Das ist zwölf Jahre her …

Yeah! (lacht)

Das Album "The Spirit Indestructible" erscheint am 14. September 2012.

Das Album "The Spirit Indestructible" erscheint am 14. September 2012.

(Foto: Universal Music)

Was denkst du heute, wenn du das "Mädchen" in den Videos siehst?

Ich würde sie am liebsten in den Arm nehmen. (lacht) Ich war ein ganz anderer Mensch damals. Aber ich kann mich in sie hineinversetzen, weil ich erst vor Kurzem daran erinnert wurde, wer sie ist. Ich bin in den vergangenen Jahren mit der Organisation "Free The Children", deren Botschafterin ich bin, mehrfach nach Afrika gereist. Dort zu sein, hat mich verändert. Auf einmal war alles ganz einfach. Und das hat mich wirklich an dieses Mädchen, das ich damals war, erinnert. Rückblickend würde ich sagen, dass ich damals ganz schön naiv war. Ich dachte praktisch, mein Erfolg würde mir zustehen. (lacht) Nach dem Motto: "Ah, das ist normal. Ich habe doch davon geträumt, mit U2 auf Tour zu gehen und beim Glastonbury-Festival aufzutreten. Ganz logisch, dass ich jetzt hier bin."

Was es aber natürlich nicht ist …

Natürlich nicht! Wenn du erwachsen wirst, wird dir klar, dass du verdammtes Glück hattest. Inzwischen bin ich für meine Karriere extrem dankbar. Ich glaube zwar, dass ich immer ziemlich bescheiden war, aber meine Dankbarkeit ist eine ganz andere als damals. Was ich gleichwohl an dem Mädchen von damals mag, ist die Leidenschaft, die es hatte.

Heute hast du selbst eine achtjährige Tochter, die dich, glaube ich, oft begleitet …

Ja, wir haben die Welt zusammen bereist, seit sie ein Baby war.

Mit acht Jahren findet sie ihre Mutter wahrscheinlich noch cool, oder?

Oh, ich glaube, meine coolen Jahre sind bald vorbei. (lacht) Sie wird bald herausfinden, dass ich nicht so cool bin. Dann werde ich ihr meine alten Videos und Auftritte vorspielen - die mit den Cornrows (Frisur mit geflochtenen Haaren, Anm. d. Red.) und den Zombie-Kontaktlinsen. (lacht) Aber es ist schon lustig, wenn man Kinder hat, vor allem wenn sie ins Schulalter oder etwas darüber kommen. Sie sind ziemlich clever und lassen sich nichts vormachen. Meine Tochter ist sehr ehrlich, was ihren musikalischen Geschmack angeht. Mit den ersten Versionen meines Albums konnte sie wenig anfangen. Erst als die etwas schnelleren und geradlinigeren Songs dazu kamen, meinte sie: "Yeah, Mami, das ist jetzt super!"

Das war einmal: Nelly Furtado mit "Cornrows".

Das war einmal: Nelly Furtado mit "Cornrows".

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Woran wir uns speziell in Europa noch gut erinnern, ist natürlich dein Song "Força", der 2004 die Europameisterschaft begleitet hat. Interessierst du dich eigentlich für Fußball?

Ich habe mir die Europameisterschaft auf jeden Fall angesehen. Und ich scheine ein gutes Fußball-Karma zu haben. Als Italien 2006 Weltmeister wurde, war ich gerade in Italien, in einer Bar in der Toskana, in der alle ausgeflippt sind. Und als Spanien die Europameisterschaft gewonnen hat, war ich gerade auf Ibiza und habe den Jubel dort miterlebt. Ich hatte wirklich Glück, immer dort zu sein, wo gerade das Fußball-Fieber grassierte. Und ich erinnere mich an die Momente, in denen ich das zusammen mit meiner Band auf Europa-Tourneen hautnah miterlebt habe, besonders gut.

Wie ist das denn in Kanada?

In Toronto und eigentlich ganz Kanada lassen die Leute so ziemlich alles stehen und liegen, wenn Welt- oder Europameisterschaft ist. Und ich bin auch echt ein Fan. Ich liebe Cristiano Ronaldo - er ist so ein tolles Aushängeschild für Portugal.

Man hat mich gebeten, mit dir nicht über die Sache mit Gaddafi zu sprechen. Also mache ich das auch nicht. Gleichwohl befindet sich auf deinem neuen Album ja ein Song, den du "Believers" und in Klammern dahinter "Arab Spring" genannt hast. Warum?

Die Revolution in Libyen hat mich sehr berührt und inspiriert. Ich glaube, es war John Lennon, der gesagt hat, dass Songwriter keine offene Kritik in ihren Songs vortragen, sondern die Dinge nur beschreiben sollten. Für mich ist das also eine Erzählung, in der es darum geht, sich in den Kopf eines jungen Menschen hineinzuversetzen, der in den Bürgerkrieg zieht. Am Morgen ist sein bester Freund noch an seiner Seite, aber am Ende des Tages hat er - aus welchen ideologischen Gründen auch immer - die andere Seite gewählt. Wie unfassbar! Ich fand den Untertitel "Arab Spring" passend dafür, weil es tatsächlich der arabische Frühling war, der mich zu dem Song inspiriert hat.

Schon länger heißt es, du würdest an einem portugiesischen Album arbeiten. Was sind deine Zukunftspläne?

Mir ist Folgendes passiert: Ich habe mit Ivete Sangalo zusammengearbeitet - eine brasilianische Pop-Diva, die in Brasilien sehr erfolgreich ist. Wir haben gemeinsam ein spezielles Konzert im Madison Square Garden gegeben, für das wir extra Songs geschrieben haben. Das hat richtig Spaß gemacht und mich auf die Idee gebracht, vielleicht auch ein brasilianisch-portugiesisches Album herauszubringen. Das wäre toll. Zugleich möchte ich aber auch ein eher folkloristisches, kontinentalportugiesisches Album machen. Und ein Nachfolgealbum zu meinem spanischen Album. Und ich wäre auch nicht überrascht, wenn ich schon bald noch ein weiteres englisches Album herausbringen würde, weil ich mich gerade in der Hinsicht sehr inspiriert fühle. Ich weiß nicht, ob ich für all das die Zeit haben werde. (lacht) Wir müssen uns überraschen lassen.

Mit Nelly Furtado sprach Volker Probst

Quelle: ntv.de

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