Respektlos? Geschmacklos? Grandios! "God Bless America"
14.01.2013, 07:14 Uhr
Diese selbst ernannte Castingshow-Jury ist knallhart.
(Foto: Kino Kontrovers)
Was ist aufregender, als sich selbst zu erschießen? Jagd auf Menschen zu machen, die es wirklich verdient haben, zu sterben? Und wo und wie findet man sie? Natürlich im Fernsehen! Sei es der christliche Hassprediger, das nervige Blondchen aus der Reality-Show oder die Jury des bekanntesten Musik-Castings - alle haben den Tod verdient. Im Namen des guten Geschmacks!
Es gibt Filme, die sieht man und weiß sofort: Der ist nicht jedermanns Sache. "God Bless America", erschienen im Verleih von Kino Kontrovers, ist so einer. Er strotzt vor Medien- und Gesellschaftskritik und ist dabei voller schwarzem Humor, direkt auf die Zwölf. Man hat nur eine Möglichkeit: Entweder man liebt ihn - so wie das Publikum des Fantasy Filmfests 2012 - oder man hasst ihn. Da er direkt zur Sache kommt, weiß man recht schnell, zu welcher Fraktion man gehört: Ob man auf den respektlosen Humor abfährt oder ihn als "völlig geschmacklos" verteufelt.
Frank (Joel Murray; "Die Geister, die ich rief") ist ein unscheinbarer Mittvierziger. Seine Körperfülle nimmt in dem Umfang zu, wie seine Haarpracht abnimmt. Was soll's. Das kümmert den in sich ruhenden Familienvater und Ex-Ehemann nicht die Bohne. Da regt er sich viel mehr über seine egoistische Nachbarschaft auf. Die stört ihn allabendlich nach harter getaner Büroarbeit beim Abschalten von der grauen Realität, die andere Leben nennen, und beim Anschalten und Schauen des Fernsehprogramms.
Schauen ist das richtige Wort, denn hören ist schwierig. Die Wände seines kleinen Appartements sind dünn und die Nachbarn laut: Die Frau blafft ihren Mann an. Der schreit zurück und versucht dabei, das nimmermüde vor sich hin kreischende Baby zu übertönen. Es gelingt ihm nicht wirklich. Frank zappt sich währenddessen lustlos durch das TV-Programm: Er sieht eine Reality-TV-Show mit einer überschminkten Blondine, die offenbar an ihrer Schule alle "supertoll" und "hip" finden, ein "Like" von ihr im Sozialen Netzwerk ist wie ein Ritterschlag. Einen Klick weiter auf der Fernbedienung und Frank erblickt eine Show, in der eine Frau eine andere mit einem Tampon bewirft. Er sieht die Hasstirade eines Tea-Party-Anhängers gegen US-Präsident Barack Obama. Im Augenwinkel verfolgt er das fuchtelnde Geschwätz eines ultrakonservativen christlichen Predigers. Und dann bleibt er bei einer Musik-Castingshow hängen. Dort tritt gerade ein offenbar geistig zurückgebliebener Junge auf und wird von der Jury erst lächerlich gemacht und im Anschluss verbal vernichtet. Dem Gesang nach zu urteilen, wohl nicht ganz zu unrecht. Aber muss so etwas wirklich sein? Frank schließt die Augen.
Dann steht er plötzlich auf, klopft an der Nachbarstür - mit einer Pumpgun in der Hand. Die Tür geht auf. Ein Schuss. Ein Knall. Und sein lauter Nachbar schweigt für immer. Frank schwenkt das Gewehr. Zielt auf die nun schreiende Frau. Die versucht, sich selbst mit dem noch lauter kreischenden Baby vor ihrer Brust zu schützen. Frank lädt durch, die Frau wirft den kleinen Schreihals in die Luft, will sich selbst in Sicherheit bringen. Frank reagiert nicht auf sie. Er folgt mit dem Gewehrlauf der Flugkurve des Babys. Ein Schuss über die Frau hinweg. Blut. Noch ein Schuss. Und Frank hat endlich seine Ruhe. Er wacht auf. Alles nur ein Traum. Auf zur Arbeit.
So geht's nicht weiter

Frank tötet nur Menschen, die es in seinen Augen verdient haben, zu sterben.
(Foto: Kino Kontrovers)
Frank will los. Er ist spät dran. Aber sein Nachbar hat ihn zugeparkt. Er klingelt, bittet ihn höflich, das Auto wegzufahren. Ein ungläu biger Blick als Antwort. Ein fragender Blick von Frank zurück. Endlich lässt sich der Nachbar erweichen. Gefühlte zwei Stunden später kann Frank endlich los. Er stellt das Autoradio an. Es geht um den Jungen aus der Castngshow. Er dreht am Sender. Es geht um den Jungen aus der Castingshow. Noch ein Dreh. Ein Prediger: Es geht um den Jungen aus der Castingshow. Frank ist genervt, noch bevor er an Arbeit ist.
Dort ist dann alles wie immer. Er sieht die gleichen miesgelaunten Gesichter, hört den gleichen 0815-Smalltalk wie jeden Tag. Dann entdeckt einer das Video des Jungen von der Castingshow im Internet. Und los geht das Geläster. Frank hat das alles so satt. Was er nicht weiß: die Firma hat ihn auch satt. Er fliegt wegen einer Lappalie raus. Frank hat der Empfangsdame einen Blumenstrauß nach Hause geschickt, als es dieser einmal schlecht ging. "Sexuelle Belästigung" heißt es dafür von seinem Chef. Und die werde nicht geduldet. "Packen Sie ihre Sachen!"
Aber es kommt noch dicker: Als Frank seine geschiedene Frau anruft, um mit seiner kleinen Tochter irgendwo in einer anderen Stadt zu sprechen, verweigert das Gör jedwede Kommunikation - solange Daddy ihr nichts schenkt. In was für einer verrückten Welt leben wir? Die Antwort auf Franks Frage gibt ihm sein Arzt: Frank habe nicht mehr lange zu leben, denn in seinem Kopf verschafft sich ein Tumor gerade kräftig Platz. Das reicht. Frank fährt völlig konsterniert nach Hause. Er kramt aus einer alten Schachtel seine Pistole heraus, schaltet den Fernseher ein, setzt sich in seinen Sessel und will sich das Leben nehmen. Über den Bildschirm flimmert wieder die Reality-Show mit der Blondine. Es ist ihr Geburtstag und ihre Eltern haben ihr einen Lexus geschenkt. Aber anstatt sich über das Luxusauto zu freuen, schreit sie ihre Eltern an und macht sie zur Schnecke. Sie wollte doch ein SUV haben und keinen Lexus! Frank ist baff: Wieso darf die leben und ich muss sterben? Ein Plan reift in seinem Hirn heran: Er will die Welt von Menschen befreien, die es verdient haben, zu sterben. Und das Blondchen steht ganz oben auf seiner Liste. Gesagt, getan.
Allerdings wird er beim Mord des Reality-Sternchens ge sehen. Doch die Schülerin Roxy (Tara Lynne Barr; "Road Kill") will ihn deshalb nicht verpfeifen. Stattdessen gratuliert sie Frank zu seiner selbstlosen und weltverbesserischen Tat - sie will an seinem Rachefeldzug an der verkommenen US-amerikanischen Gesellschaft teilnehmen. Als sie erwähnt, dass sie jeden Abend von ihrem Daddy missbraucht wird, willigt Frank ein. Gemeinsam ziehen sie nun eine mörderische Schneise durch die prüden und doppelzüngigen USA. Judenhasser, Nazi-Feministinnen, fundamentale Christen, Tea-Party-Anhänger, die behaupten, dass Parkinson die Strafe Gottes für Sozialisten sei: Nichts und Niemand ist mehr vor Frank und Roxy sicher. Aber das große Finale steht noch bevor: "American Superstarz" heißt Franks großes Ziel, denn niemand macht sich ungestraft über einen zurückgebliebenen Jungen im Fernsehen lustig - egal, wie schlecht er singt.
Zwischen den Zeilen lesen
Also mal ernsthaft: abgesehen von der Baby-Szene zu Beginn ist der Film völlig harmlos. An der einen oder anderen Stelle vielleicht ein wenig geschmacklos. Auf jeden Fall ist er respektlos. Und das macht ihn letzten Endes grandios. Joel Murray (der Bruder des berühmteren Bill) ist die absolute Traumbesetzung für die Rolle des Frank. Die Sympathien sind nahezu sofort auf seiner Seite, obwohl er Amok läuft. Er tut das nicht etwa in wilder Raserei. Bei ihm sterben nur Menschen, die es in seinen Augen wirklich verdient haben. Roxys "kill list" ist anfangs noch länger, doch Frank, der ihr auch das Schießen beibringt, hat einen beschwichtigenden Einfluss auf sie. Schon irgendwie beruhigend, dass die Jugend ab und an noch auf die ältere Generation hört. Eine der vielen Lehren, die man aus "God Bless America" ziehen kann.
Dass sich Franks Arzt am Ende sogar geirrt hat und der Gehirntumor im Kopf eines anderen Patienten sitzt, dessen Name nur so ähnlich wie Franks klingt: geschenkt. Das der zurückgebliebene Junge sich am Ende als absolut mediengeil herausstellt, als jemand, der unbedingt ins Fernsehen will, egal, wie schlecht er auch singt, dass er sich also letzten Endes selbst der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen hat: Auch das spielt keine große Rolle mehr. Frank hat auf seinem Kill-Roadtrip durchs Land alles gesagt, was er sagen wollte. Er hat alles erreicht, was er sich vorgenommen hat: Die USA mit ihrer glorreichen Vergangenheit wachrütteln, sie wieder zu einem besseren Land machen. Jeder Schritt zählt. Mag er auch noch so klein und unbedeutend erscheinen. Frank wandelt dabei auf Neil Armstrongs Spuren: "That’s one small step for a man, one giant leap for mankind."
So gesehen, kann man dem Regisseur von "God Bless America", Bobcat Goldthwait ("World’s Greatest Dad"), nur gratulieren: Er hat einen Klassiker geschaffen - Geschmack hin oder her. Den Mut muss man erst einmal haben, solch einen Film zu drehen, so respektlos und politisch unkorrekt. Goldthwait fängt im Endeffekt da an, wo Joel Schumacher mit seinem "Falling Down" aufgehört hat. Klar, auf den ersten Blick mag es plump erscheinen, das Thema Amoklauf für eine Mediensatire zu benutzen, aber Goldthwait hat es immerhin getan. Seit Barry Levinsons Politsatire "Wag The Dog" Ende der 1990er - und einmal abgesehen von Michael Moores bissigen Dokumentarfilmen - hat das kein Regisseur mehr gewagt.
In den USA lief "God Bless America" nur in kleineren Kinos, in Deutschland nur auf einigen Festivals. Er kommt dank Kino Kontrovers nun "Direct to DVD" in den Handel. Und er wird seine Fans mit Sicherheit finden. Und wenn Sie ihn anschauen, werden Ihnen Unmengen an Parallelen zur deutschen Fernsehlandschaft auffallen: Möchtegern-Promis, die sich auf ihren Pseudo-Ausflügen filmen lassen. Tumbe mediengeile Blondchen von nebenan. Musik-Castingshows, mit Juroren, die sich am nichtvorhandenen Können der Kandidaten aufgeilen. Doku-Soaps über scheinbare Otto-Normalbürger aus hippen Großstädten. Die Liste ließe sich nahezu unendlich fortführen. Und wem haben wir das alles zu verdanken? "God Bless America".
Quelle: ntv.de