Wuchtbrumme ohne Wucht Gossip werden Gaga
14.05.2012, 16:03 Uhr
Rock war gestern: Gossip alias Hannah Blilie, Beth Ditto und Nathan Howdeshell (v.l.n.r.)
(Foto: Rankin / Sony Music)
Mit dem Album "Music For Men" und der Single "Heavy Cross" starteten Gossip so richtig durch. Und nicht nur das - Frontfrau Beth Ditto wurde quasi über Nacht zu einer Stil-Ikone der anderen Art. Mit dem neuen Werk "A Joyful Noise" soll die Erfolgsgeschichte nun fortgeschrieben werden. Doch kann das gelingen?
Es gibt Alben, bei denen könnte man meinen, sie wären ein Selbstläufer. Das gerade erschienene neue Werk von Gossip namens "A Joyful Noise" zum Beispiel gehört dazu. Schließlich hatte die Band um Sumo-Sängerin Beth Ditto mit dem Vorgänger "Music For Men" vor drei Jahren allen gezeigt, wo der Hammer hängt. Das von Rick Rubin produzierte Major-Debüt überführte den rotzig-rockigen Sound des Trios mit der Power-Frau am Mikro so gekonnt in die Massenkompatibilität, dass sich dem kaum noch jemand entziehen konnte. Mindestens bei der Single "Heavy Cross" wippte wirklich jeder Fuß.
Die Belohnung: Single und Album der ursprünglich in Punk und Indie-Rock verwurzelten Gruppe stießen in die vordersten Charts-Regionen vor. Und das rund um den Globus. Das heißt - fast rund um den Globus. In ihrer Heimat USA nämlich blieb der Band Aufmerksamkeit und Anerkennung bis dato weitgehend verwehrt. Während Gossip in Europa und Australien mit Gold- und Platinum-Platten zuletzt nur so überhäuft wurden, schaffte es in den Staaten keine ihrer Scheiben auch bloß in die Top 100.
"Was weiß ich"
Dabei geht es bei Gossip nicht mehr "nur" um die Musik. Mit der selbstbewussten Verkörperung ihrer XXXL-Statur avancierte Beth Ditto rasch zu einer Art Anti-Ikone. Modemacher wie Karl Lagerfeld und Jean-Paul Gaultier entdeckten in ihr eine alternative Muse zu den sonst von ihnen bevorzugten Klappergestellen, Lifestyle-Magazine schmückten ihre Titelblätter mit Ditto und Bekleidungsfirmen nahmen die Klamotten-Entwürfe der Sängerin in ihre Kollektionen auf. Nur: Es waren eben ausschließlich europäische Modemacher, europäische Magazine und europäische Bekleidungsfirmen, die den Rundungen der mittlerweile 31-Jährigen verfielen.
Darüber, warum das so ist, lässt sich nur spekulieren. Eine plump-zynische Variante wäre die Mutmaßung, dass eine Beth Ditto in den USA keine Besonderheit darstellt. Mädchen und Frauen ihres Kalibers gehören da ja zum Straßenbild. Eine auf den ersten Blick etwas tiefer schürfende Interpretation indes zielt nicht nur auf die Optik. Womöglich ist die offen zu ihrer Homosexualität stehende Sängerin für den US-amerikanischen Geschmack ja eine Spur zu exaltiert und extrovertiert. Allerdings ließe sich so eine Annahme schon auf den zweiten Blick auch als typische Überheblichkeit des guten, alten Europas entlarven. Schließlich gibt es - von Marilyn Manson bis Lady Gaga - genug Gegenbeispiele an Bands und Künstlern, die sehr wohl auch ohne vornehme Zurückhaltung in den USA punkten.
Auch Beth Ditto selbst weiß keinen Rat. "Zu fett, zu lesbisch, zu vorlaut, was weiß ich", stocherte sie vor Kurzem auf der Suche nach einer Erklärung, weshalb ihr die Landsleute die Gefolgschaft verweigern, ähnlich im Nebel. Vielleicht hatte sie bei den Worten "was weiß ich" jedoch heimlich auch die Musik ihrer Band im Verdacht. Jedenfalls liegt diese Vermutung nicht allzu fern, wenn man das neue Gossip-Album hört.
Willkommen im Mainstream-Pop
Manch einer, der seine Begeisterung für die Gruppe zu Zeiten von "Standing In The Way Of Control" entdeckt hat, dürfte spätestens jetzt bei "A Joyful Noise" rücklings vom Stuhl kippen. Man kann das natürlich "Weiterentwicklung" des bei "Music For Men" eingeschlagenen Kurses nennen. Man könnte allerdings auch sagen, dass Gossip sich endgültig von ihren Alternative-Wurzeln verabschieden und stattdessen ihr Heil im Mainstream-Pop suchen. Geradezu sinnbildlich dafür steht die Auswahl des Produzenten für das Album. Statt eines Hip-Hop- und Rock-Veteranen wie Rick Rubin engagierte man diesmal mit Brian Higgins einen Musikprofi, zu dessen Kunden bislang vornehmlich Damen und Herrschaften wie Cher, die Sugababes oder die Pet Shop Boys gehörten.
Mit "A Joyful Noise" vollführen Beth Ditto und ihre Mitstreiter einen gewagten Spagat - möglicherweise in der Hoffnung, dass ihnen damit endlich auch der Erfolgs-Spagat zwischen den USA und dem Rest der Welt gelingen möge. So kommt die Single "Perfect World" in bester europäischer Synthie-Pop-Tradition daher, während sich mit einem Song wie "Move In the Right Direction" wohl auch Kylie Minogue wohlfühlen würde. "Get Lost" badet in längst vergessen geglaubten House-Klängen, und beim Intro von "Get A Job" muss man tatsächlich zweimal hinhören, ob hier wirklich Frau Ditto und nicht etwa Frau Gaga am Werk ist. Und das nicht nur des Textes wegen: "I’d love to stay and party but I gotta go to work."
Nein, es sollten hier keine Missverständnisse aufkommen - "A Joyful Noise" ist kein schlechtes Album. Dafür haben Ditto und ihre Band-Kollegen Nathan Howdeshell und Hannah Blilie schon allein beim Songwriting zu viel drauf. Ganz zu schweigen natürlich vom nach wie vor außergewöhnlichen Organ der Frontfrau - jedenfalls, solange es im poppigen Arrangement ab und an noch einmal ausbrechen darf. Aber ein Selbstläufer, wie man ihn angesichts der Lorbeeren für Gossip in den vergangenen Jahren hätte erwarten können, wird das Album auch nicht. Dies zeigt schon ein Blick auf die Amazon-CD-Verkaufscharts, in denen das Trio den Sprung auf Platz 1 deutlich verpasste. Scheinbar haben sich viele von dem Titel "A Joyful Noise" nicht ins Bockshorn jagen lassen. Denn, okay, "joyful" mag das Album sein - mit Abstrichen. Aber noise? Definitiv nein.
Quelle: ntv.de