"Weder gehypt noch am Arsch" Das neue Band-Gefühl der Sportfreunde Stiller
11.11.2022, 15:42 Uhr
Nach einer längeren Auszeit zurück: Sportfreunde Stiller.
(Foto: Universal Music)
"Elf Freunde müsst ihr sein", heißt es im Fußball. Bei Sportfreunde Stiller reicht es indes schon aus, wenn drei sich zusammenraufen. Das aber ist nicht immer so einfach. Mit ntv.de spricht das Trio deshalb nicht nur über sein neues Album "Jeder nur ein X", sondern auch über das Gestern, das Heute und das Morgen.
ntv.de: "Jeder nur ein X" ist euer erstes Album seit sechs Jahren. Die Antwort auf die Frage, was ihr in den vergangenen sechs Jahren gemacht habt, sei ganz einfach, heißt es in der Ankündigung: "gelebt". Aber wie habt ihr das Leben gefüllt?
Florian "Flo" Weber: Wir haben es verlebt. (lacht) Nein, im Ernst: Jeder von uns hat sich in den ersten drei Jahren eigenen Projekten, Ideen und Ansichten gewidmet. Das war natürlich äußerst individuell und unterschiedlich.
Rüdiger "Rüde" Linhof: Wir konnten uns einmal damit beschäftigen, was es heißt, kein Sportfreund zu sein. Bei mir ging es zum Beispiel einfach nur darum, ich selbst zu sein - mit der Familie und als Privatmensch. Erstmal war es total schön, selbstständig Entscheidungen zu treffen, ohne immer auf einen prall gefüllten Kalender zu schauen. Es gab mir ein gewisses Gefühl der Freiheit, Projekte anzufangen, wie ich Bock habe, ohne gleichzeitig zu überlegen, ob etwa ein Gang ins Studio oder eine Tour ansteht. Aber den Spaß, den ich in der Band hatte, konnte ich dann doch nicht so leicht finden.
Woran lag das?
Linhof: Es war einfach ein anderes Leben, in dem es dann halt doch oft auch ein bisschen ernster zugeht. Manchmal ist es toll zu sehen, welche neuen Ideen und Projekte da ständig entstehen. Manchmal ist es aber auch ernüchternd. Ich habe auf jeden Fall Respekt vor allen Menschen gewonnen, die in diesem Leben darum kämpfen, irgendwie bestehen zu können. Vor Menschen, die eine Familie haben und alles gewuppt kriegen müssen.
Ihr macht keinen Hehl daraus, dass die Chemie in der Band vor sechs Jahren nicht mehr so richtig gestimmt hat. Wart ihr zerstritten und habt auch deshalb eine Auszeit gebraucht?
Peter Brugger: Ja, ich habe eine Auszeit gebraucht. Aber ich würde nicht sagen, dass wir richtig zerstritten waren. Es war eher eine komische Mischung: Einerseits sind wir zu vorsichtig mit Kritik und Offenheit in der Band umgegangen. Anderseits hat jeder zu sehr auf seine eigene Sicht gepocht. So sind wir in Kommunikationsprobleme gerauscht, der Zusammenhalt hat gelitten und es gab Energieverluste. Wir haben als Band den Flow verloren.
Wann habt ihr das gemerkt?

"Wir haben immer noch eine sehr enge freundschaftliche Beziehung. Definitiv!"
(Foto: Ingo Pertramer / Universal Music)
Brugger: Ich glaube, man hat es schon bei der letzten Platte "Sturm & Stille" gemerkt. Wir sind in einer Art stillen Übereinkunft in diese Krise geschlittert. Eigentlich sollten ja gerade im kreativen Prozess alle involviert sein. Aber wir haben uns nicht alle voller Energie eingebracht. Ich glaube, solche Prozesse passieren einfach in Beziehungen - auch eine Band baut ja auf zwischenmenschlichen Beziehungen auf. Ich persönlich habe da irgendwann nur noch die Möglichkeit gesehen, die Reißleine zu ziehen.
Apropos Beziehungen: Ihr habt die Band vor 27 Jahren als Freunde gegründet. Seid ihr immer noch befreundet oder ist das heute eher eine professionelle Angelegenheit?
Weber: Wir haben immer noch eine sehr enge freundschaftliche Beziehung. Definitiv! Ich musste allerdings erst einmal lernen, dass unsere Beziehung auch in der Pause voneinander lebt. Ich konnte mit der Auszeit nämlich zunächst gar nichts anfangen, war traurig und frustriert. Ich bin ein Mensch, für den immer etwas entstehen muss und der dauernd denkt, etwas in die Hand nehmen zu müssen. Da fiel es mir schwer zu akzeptieren, dass einer mit dem Tempo nicht mitgehen kann. Umso glücklicher bin ich darüber, wie wir jetzt als Band hier sitzen. Die Atmosphäre ähnelt wahrscheinlich der vor 15 Jahren, mit einem jugendlichen Esprit, der uns nach vorne drängt ...
Wie drückt sich das aus?
Weber: Wir stehen zum Beispiel nach Konzerten wieder Arm in Arm da. Ich würde nicht sagen, wir weinen vor Glück. (lacht) Aber wir bewegen uns emotional schon auf den höchsten Höhen. Inzwischen traue ich mich sagen: Ohne diese Pause würde es uns heute als Band vielleicht nicht mehr geben. Ja, eine 27-jährige Band zu haben, ist, wie eine Beziehung zu führen. Sehr intensiv. Aber Freundschaft muss eben auch Tiefen aushalten. Dazu ist sie auch da.
Wie ist es konkret dazu gekommen, dass ihr euch für "Jeder nur ein X" wieder zusammengerauft habt. Es heißt, es sei eine Menge Bier im Spiel gewesen ...
Linhof: Eigentlich war es erstmal Cappuccino und Apfelschorle in einem Café. Als ich mich zu den beiden anderen an einen kleinen Tisch gesetzt habe, kam dieses unglaubliche und vergessene Gefühl zurück, was es heißt, eine Band zu sein. Dafür habe ich gar kein Bier gebraucht ...
Weber: Meine Erinnerung ist da etwas anders. In dem Café hatte ich dieses Gefühl noch nicht. Für mich war es eine eher beklemmende Situation. Erst nachdem wir alle ziemlich deutlich von unserer Verzweiflung und unserem Frust gesprochen hatten, kam es zu der Idee, uns mal wieder im Proberaum zu treffen.
Und dann?
Weber: Im Proberaum haben wir uns erst einmal einen alten Song von uns vorgenommen. Es klang grausig! Aber dann, nach dem siebten oder achten Takt, war zu es spüren: "Ja, das sind wir!" Wir saßen danach alle drei grinsend da. Und mir wurde klar: "Hey, hier sitzt eine Band. Die hat jetzt zwar ein paar Jahre pausiert, aber sie ist weiterhin wichtig und man kann mit ihr viel erreichen. Es wäre echt schade, wenn es sie nicht mehr gäbe." Nach dem zweiten Lied haben wir uns dann Gott sei Dank entschlossen, etwas Neues auszuprobieren.
Was nun vielleicht auf dem neuen Album zu hören ist. Beim Titel "Jeder nur ein X" schießt vielen bestimmt als allererstes Monthy Python und "Das Leben des Brian" durch den Kopf ...
Brugger: Das war natürlich die erste Inspiration, die Flos Vorschlag zugrunde lag - der wahrscheinlich 123. Vorschlag auf der Suche nach einem Albumtitel. (lacht) Bei Rüde und mir hat er auch deshalb gezündet, weil er so viele Sichtweisen eröffnet. Natürlich gibt es da diese grandiose Szene in diesem grandiosen Film. Aber in dem Titel kommt auch zum Ausdruck, wie froh wir eigentlich sein können, in einer Demokratie zu leben, in der man sein Kreuz setzen und mitbestimmen kann. Oder aber, wie viel wir eigentlich alle gerade zu tragen haben - erst die Pandemie, jetzt der Krieg und all die Sorgen und Unsicherheiten, was an Folgen auf uns zukommt. Zugleich haben wir alle nur ein Kreuz, mit dem wir das Leben schultern können. Es mag mehr oder weniger breit sein, aber es ist immer nur eins. Uns hat begeistert, wie viel eigentlich in diesem einen Satz steckt.
Wie seid ihr musikalisch an das neue Album herangegangen?

(Foto: picture alliance/dpa)
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Brugger: Es war ein interessanter Entstehungsprozess. Wir hatten Tobi Kuhn als Produzenten mit an Bord. Er kennt uns schon ewig und hat mit Miles und Monta auch schon die Bühnen dieser Republik mit uns bereist. Tobi hat unsere Demos zum Teil ordentlich zerlegt und neu zusammengestückelt. Wir haben viel diskutiert und ausprobiert, aber in Offenheit und mutiger Entdeckerlaune. Wir haben uns auf die Suche begeben, wie die Sportfreunde aktuell klingen können, ohne sich zu wiederholen. Diese kreativen Sessions waren während der Pandemie eine echte Wonne.
Dabei seid ihr immer noch die Mutmacher der Nation - mit Liedzeilen wie "Ich scheiß auf schlechte Zeiten", "Ab jetzt bergauf" oder "Und wir hören nie auf ... für immer ... Mensch sein und Mensch bleiben". Ganz oft schwingt bei euren Texten so etwas wie der Mut der Verzweiflung mit. Woher kommt das?
Brugger: Stimmt. Das fällt uns auch auf. (lacht)
Weber: Wir wollen auch dagegen angehen, aber es klappt nicht. (lacht) Tatsächlich denken wir uns oft beim Schreiben eines Songs: "Lass uns doch einfach mal diesen kaputten Zustand beschreiben. Lass uns einfach mal betrachten, was wirklich scheiße ist, dann da liegt und scheiße bleibt." Und dann kommt doch immer wieder der allerletzte Satz, der alles wieder rausreißt. Offenbar sind wir dann einfach doch lieber Teil einer Lösung als Teil eines Problems. Gerade auf dem neuen Album befinden sich mit "Wächter" oder "Ibrahimovic" aber auch Lieder, in denen wir so klar mit Depression und Angst umgehen wie bisher noch nie.
Ist der Song "Wächter", in dem es um Depressionen geht, autobiografisch mit Blick auf einen von euch?
Weber: Der Song ist biografisch, aber nicht autobiografisch. Wir haben vielmehr erfahren, dass ein Freund psychische Probleme hatte. Wir waren verwirrt und schockiert, weil uns das nicht aufgefallen war. Ich habe damals vier Zeilen getextet und wir haben ihm eine kurze Nachricht geschickt, dass wir ihm aus dem Süden beistehen. Dass wir an ihn denken, hat ihn so sehr gefreut, dass mir diese vier Zeilen nicht mehr aus dem Kopf gegangen sind. Daraus wurde dann der Anfang von "Wächter", denn wir waren uns zu dritt einig, dem Thema einen Song zu widmen.
Auch "Ibrahimovic" hast du schon angesprochen - bei weitem nicht euer erstes Lied mit Fußball-Bezug. Ich frage mich, was Roque Santa Cruz inzwischen so macht. Habt ihr noch Kontakt zu ihm?
Brugger: Nee. Das letzte Mal Kontakt hatten wir, als ich ihn mal in München vor einem Hotel getroffen habe. Darüber haben wir uns beide sehr gefreut. Es ging ihm gut und er erzählte mir, dass wir in Paraguay mit unserem Lied famous seien. (lacht)
Ein Evergreen wie "Ein Kompliment" von euch wird wahrscheinlich heute noch auf unzähligen Hochzeiten, Verlobungsfeiern und dergleichen gespielt. Mit Roque Santa Cruz können viele jüngere Fans dagegen wahrscheinlich kaum noch etwas anfangen. Ist euch das egal, wenn ihr ein Lied wie "Ich, Roque" aufnehmt?
Linhof: Ja, wir machen da einfach unser Ding. Natürlich ist es schön, wenn sich die Leute, die auf unsere Konzerte kommen, mit unseren Songs verbinden, mit ihnen wachsen und ihre Bezüge dazu finden. Die Songs werden so zu Lebensbegleitern. Manche von ihnen haben es geschafft, dass ein ganzes Land sie kennt und in einer sehr schönen Weise zu ihnen feiert. Andere sind dann nur Teil der Sportfreunde-Welt. Das ist okay, finde ich.
Jedes eurer sechs Alben, die ihr seit 2002 veröffentlicht habt, war ganz weit vorne in den deutschen Charts. Wie wichtig ist euch der kommerzielle Erfolg, auch jetzt mit Blick auf "Jeder nur ein X"?
Weber: Wir sind nicht aus Teflon - Kritik perlt nicht einfach an uns ab. In so einem Album steckt sehr viel Herzblut. Wir machen das, was wir lieben. Zu sagen, es sei total egal, ob es zwei oder zwei Millionen Menschen hören, wäre deshalb gelogen. Zugleich ist es für uns nicht nur Berufung, sondern eben auch Beruf. Je besser ein Album ankommt, desto leichter ist es für jeden von uns, seine Familie zu ernähren. Deshalb würde ich mich schon freuen, wenn das Album wieder in diese Gefilde der Charts vordringt.
Brugger: Mein Gefühl gerade ist: Wir sind weder gehypt noch am Arsch.
(Allgemeines Gelächter)
Weber: Das wäre doch eine gute Überschrift für dieses Interview!
Absolut.
Brugger: Das ist auf jeden Fall ein gutes Gefühl. Wir kriegen Anfragen für Konzerte und für Festivals. Im Sommer haben wir bei "Rock am Ring" gespielt und die Leute kamen und wollten uns hören. Das war für mich so ein Aha-Moment, in dem ich feststellte: Wenn es so ist, bin ich einfach ultradankbar. Dann glaube ich auch, dass wir unsere Geschichte weiterschreiben können.
Gerade nach den ganzen Corona-Beschränkungen haben die Leute ja auch alle wieder richtig Bock auf Konzerte. Eure erste Show nach der Pause fand in Landshut statt und soll sogar in einer Minute und elf Sekunden ausverkauft gewesen sein ...
Linhof: Ja, es fühlt sich an, als ob das Leben wieder von vorne beginnt. Aus dem Nightliner zu steigen, kurz mal zur Veranstaltungshalle zu sehen und festzustellen, dass da wirklich Leute stehen, war ein echt tolles Gefühl. Nur zu sehen, dass sich die Leute wieder treffen, ein bisschen drängeln und singen, verdeutlicht schon, was gefehlt hat. Dieses ganze Abstrahieren von Begegnungen durch Zoom-Konferenzen macht ja was mit den Menschen. Nur zu schreiben und oftmals zu haten, weil man so viel Frust in seinen vier Wänden im Lockdown hat, macht was mit der ganzen Gesellschaft. Wir brauchen die Musik und die Kultur, die uns als Gesellschaft festigt.
In eurem Song "Früher war schon" auf "Jeder nur ein X" singt ihr: "Früher war schon immer nicht alles besser". Aber eine Pandemie und einen Krieg in Europa mussten ich und ihr bis dato nicht erleben. War früher nicht vielleicht doch manches besser?
Linhof: Der Krieg ist doch nur geografisch ein bisschen näher gerückt. Ich will das nicht verharmlosen. Das ist schrecklich, schrecklich, schrecklich. Aber allein in den letzten 30 Jahren gab es zum Beispiel den Krieg in Georgien, zwei Tschetschenienkriege, zwei Golfkriege, den Jugoslawienkrieg ... Die Scheiße kommt und geht. Wir brauchen einfach eine Haltung dazu.
Wie sollte sie aussehen?
Linhof: Sie kann nur darin bestehen, dass sich demokratische, freie und liberale Gesellschaften konsequent bestärken und unterstützen. Dass man wirklich solidarische Gesellschaften stärkt. Dass man Menschen, die weniger Geld haben, nicht hängen lässt. Dass man auf Umweltthemen achtet. Dass man auf Bildungsthemen achtet. Dass man lernt, wieder nach vorne zu schauen. Es gab in den 70er-Jahren so viele Terrororganisationen in Europa. Es gab die Hafenstraße, die Startbahn-West, Deutschlands atomare Aufrüstung, Wackersdorf ... Ey, wir hatten so viel Scheiße am Start. Immer zu sagen, die Welt würde jetzt untergehen - damit ist niemandem geholfen. Was wir brauchen, ist Hoffnung.
Weber: Das Lied ist ja auch keine plumpe Parole, sondern soll zum Nachdenken anregen. Darüber, dass man nach vorne blicken sollte, bevor man zu schimpfen beginnt. Man sollte schauen, was man in die Hand nehmen kann, um voranzugehen. Wenn ich ganz genau darüber nachdenke, fällt mir nur eins ein, was früher wirklich besser war: die Löwen (der TSV 1860 München).
(Allgemeines Gelächter)
Fußball ist ein gutes Stichwort: Ich komme natürlich nicht umhin, euch nach der WM in Katar zu fragen. Guckt ihr die oder bringt ihr es übers Herz, sie zu boykottieren?
Brugger: Ich fürchte, ich bringe das nicht übers Herz. Ich stehe halt einfach so extrem auf Fußball ... Dass jetzt gerade hier Menschenrechtsfragen so wenig Beachtung finden, ist natürlich furchtbar und ein Gräuel. Trotzdem weiß ich gar nicht, ob ein Boykott die Lösung wäre.
Sondern?
Brugger: Es wäre super, wenn sich die ganzen an diesem Weltverband beteiligten Verbände mal positionieren und den Mund aufmachen würden, um mit dieser wunderbaren Sache Fußball ein Vorreiter für eine - in Anführungsstrichen - bessere Welt zu werden. Da ist ja wirklich so viel Kohle drin, dass sie echt viel reißen könnten.
Jetzt, da die Chemie bei den Sportfreunden wieder stimmt und ihr als Band hier zusammensitzt: Sehen wir uns vielleicht auch noch in weiteren sechs Jahren zum Interview? Oder vielleicht sogar noch in zehn?
Brugger: Ich fände das schon cool. Allein weil es wirklich spannend wäre, uns zu erleben, wenn wir dann wirklich alt sind.
Linhof: Na ja, wir sehen jetzt schon ordentlich grau aus.
Brugger: Stimmt. Aber wie ist das wohl, wenn sich der Rücken so langsam einrollt? Das würde ich gerne sehen.
Mit Peter Brugger, Rüdiger Linhof und Florian Weber von Sportfreunde Stiller sprach Volker Probst
Quelle: ntv.de