Als wäre es gestern gewesen Am Trümmerfeld der Germanwings-Katastrophe


Vor zehn Jahren steuert ein psychisch kranker Co-Pilot ein Flugzeug mit 150 Menschen an Bord gezielt in einen Berg, es gibt keine Überlebenden. Unser Autor erinnert sich an verzweifelte Helfer, schreiende Reporter und ein überwältigendes Gefühl der Unwirklichkeit und Trauer.
Am 24. März 2015 denke ich zum ersten Mal in meinem Leben über die tiefere Bedeutung des Wortes "Morgengrauen" nach. Es ist kurz nach halb sieben im kleinen Dorf Selonnet unweit von Seyne-les-Alpes. Der Himmel ist blau und hinter dem fast 3000 Meter hohen Massiv des Tête de l'Estrop sieht man schon die Sonnenstrahlen, die erst ein paar Stunden später ihren Weg ins Tal finden werden. Aber bis dahin ist das Tal in unheilvolles Zwielicht getaucht. Und mit ihm die surreale Szenerie, die sich auf der einzigen ebenen Fläche vor den Toren des Dorfes abspielt.
Dutzende Kameras stehen aufgereiht am Rand eines Feldes und filmen die beiden Helikopter, die sich wie Insekten langsam aus der Dunkelheit schälen. Ein paar Helfer von Gendarmerie und Feuerwehr strecken ihre von der nächtlichen Kälte noch steifen Glieder und klettern in die Hubschrauber. Erst langsam, dann immer schneller drehen sich die Rotoren, bis die Helis schließlich, von Dutzenden Objektiven verfolgt, abheben und in Richtung des Bergmassivs verschwinden, in dessen unwirtlicher Mondlandschaft die Trümmer von Germanwings-Flug 4U9525 verstreut liegen. "Unmöglich", sagt ein englischer TV-Reporter zu seinem Kollegen, der in der Nacht noch angekündigt hatte, die Absturzstelle notfalls eben zu Fuß zu erreichen.
Wie ein surrealer Fiebertraum
Nicht einmal 24 Stunden vorher war die Eilmeldung der dpa von einem der schlimmsten Flugzeugunglücke der jüngeren Vergangenheit mit vielen deutschen Passagieren an Bord quasi direkt vor der eigenen Haustür über die Ticker gegangen. Auch für ntv.de war innerhalb von wenigen Minuten klar, dass wir darüber unmöglich vom Schreibtisch aus berichten konnten.
In weniger als einer Stunde stieg ich in Tegel aus dem Taxi, landete am späten Nachmittag in Nizza und konnte trotzdem nur mit Mühe noch einen Mietwagen organisieren: Medien aus aller Welt waren auf dem Weg in das schwer zugängliche Tal in den französischen Seealpen, in dem die Germanwings-Maschine abgestürzt war. Die knapp drei Stunden Fahrt durch pechschwarze Nacht über immer engere Serpentinenstraßen, gedrängelt von Kolleginnen und Kollegen, die unbedingt noch ein paar Minuten vor allen anderen am Unglücksort sein wollten, erscheinen rückblickend wie ein surrealer Fiebertraum. Ein Gefühl, das die nächsten Tage anhalten sollte.
Als das erste Grau des Morgens endlich die Szenerie beleuchtet, genügt ein Blick auf die Umgebung, um zu verstehen, warum sich die Rettungskräfte bereits zu diesem Zeitpunkt sicher sind, dass niemand der 150 Menschen an Bord der Maschine diesen Absturz überlebt haben konnte. "Wir haben diese roten Fähnchen dabei und immer, wenn wir Teile finden, stecken wir ein Fähnchen daneben in den Boden", sagt Gendarm Matthieu, der als einer von mehr als 600 Helfern seit dem Vortag bei der Bergung hilft. Kurze Pause, ein heftiger Zug an seiner Zigarette, dann: "Teile von jemandem, verstehst du?" Schon am Abend zuvor hätten Kollegen angefangen, die menschlichen Überreste in schwarze Säcke zu verpacken und ins Tal zu bringen, "aber da war ich zum Glück schon nicht mehr dabei."
"Etwas Besseres verdient als schreiende Reporter"
Später am Vormittag ist die Kongresshalle in Digne-les-Bains, der nächstgrößeren Stadt, knapp 30 Kilometer vom Absturzort entfernt, bereits zum provisorischen Leichenschauhaus umfunktioniert. Etwas abseits lehnt eine freiwillige Helferin während ihrer Zigarettenpause an einer Mauer am nahen Fluss und blickt fassungslos auf die internationale Schar der Reporter, die vor dem Eingang der Halle auf eine Chance lauern, mit den Angehörigen zu sprechen. "Die Hinterbliebenen haben in ihren schwersten Stunden etwas Besseres verdient als schreiende Reporter", diktiert mir die ältere Dame in den Block. Ich schreie zwar nicht, fühle mich aber trotzdem ertappt.
Tatsächlich war der mediale Umgang mit dem Unglück auch und vor allem im Nachhinein betrachtet alles andere als eine Glanzstunde der Pressearbeit in Deutschland: Namenslisten wurden ohne jeden Skrupel veröffentlicht, die Angehörigen damit ungewollt zu Zielscheiben der Boulevardpresse. Später präsentierte eine große deutsche Boulevardzeitung eine vermeintliche Ex-Freundin des Co-Piloten: Angeblich habe der - laut Abschlussbericht der französischen Untersuchungsbehörde BEA unter einem akuten psychotischen Schub leidende Mann - ihr im Vorfeld verraten, dass etwas geschehen würde, das seinen Namen in der ganzen Welt bekannt machen würde. 2017 wurde die Frau von RTL als Betrügerin entlarvt.
"Die wollen doch nur ihre Köpfe in die Kameras halten"
Wieder zurück in Seyne-les-Alpes, scharren die Reporter mit den Füßen. Es sind noch einmal mehr geworden seit dem frühen Morgen: Bundeskanzlerin Angela Merkel will die Basisstation der Rettungskräfte besuchen und zusammen mit den französischen und spanischen Kollegen Francois Hollande und Mariano Rajoy den Helferinnen und Helfern für ihren Einsatz danken. Die Männer und Frauen von Gendarmerie, Bergrettung, Armee und Rotem Kreuz stehen in Reih und Glied und frieren im schneidenden Wind, während von den drei Staatschefs zunächst jede Spur fehlt.
"Die wollen doch nur ihre Köpfe in die Kameras halten und Wählerstimmen abgreifen", ereifert sich ein älterer Mann, der auf der höhergelegenen Landstraße Stellung bezogen hat und mit seinem Fernglas beste Sicht auf das komplette Gelände hat. Er ist einer von ganz wenigen Schaulustigen, die sich nach Seyne verirrt haben: "Die ganzen Jungens da unten könnten schon längst wieder was Sinnvolles machen - aber nein, sie werden ja für die Zeremonie gebraucht."
Fast im selben Moment erfüllt ein tiefes Brummen die Luft. Aus Richtung der Absturzstelle von Flug 4U9525 nähert sich ein plumper Transporthubschrauber des französischen Heeres in Tarnfarben, dicht gefolgt von einem stahlgrauen Luftwaffen-Heli. Mit ohrenbetäubendem Lärm nähern sich die beiden Ungetüme dem Boden und werden von den heftigen Windböen hin und her geschleudert. Dann springt ein Offizier in Gardeuniform aus dem Cockpit, klappt eine Treppe für seine staatstragenden Passagiere aus und salutiert. Die Fernsehkameras fangen den bildgewaltigen Auftritt von Merkel und Hollande dankbar ein.
Wer Seyne hört, denkt nicht mehr an die schönen Berge
Nach einem kurzen Statement und einer Umarmung für Spaniens Ministerpräsident Rajoy, der gerade noch rechtzeitig mit dem Auto eingetroffen ist, marschieren die drei Staatschefs und ihre Entourage zu den Helfern. "Es ist ein Zeichen unglaublicher Freundschaft und Hilfe, wir sind sehr dankbar", halten die Mikrofone offiziell von Merkel fest. Was soll sie auch anderes sagen, möchte ich am liebsten einwerfen und dem alten Mann mit dem Fernglas insgeheim Recht geben.
Wäre da nicht die junge Frau von der Polizei, die ein paar Stunden nach Merkels Besuch rauchend am Rande des Absperrkordons steht und eine viel persönlichere Geschichte erzählt: "Sie hat mich gefragt, wie lange ich da oben war. Ich habe gesagt, gestern Abend und heute Morgen, und dass es echt nicht einfach ist, der Anblick und alles. Dann hat sie mich lange angesehen und 'Danke' gesagt. Das kam von Herzen, ich habe es gespürt. Das war wichtig für mich."
Viel später, am Ende eines sehr langen Tages, stehe ich mit zwei Flaschen Bier und einem in Plastik eingeschweißten Fertigsalat an der Kasse des örtlichen Supermarkts. "Am schlimmsten ist für mich die Tatsache, dass es keinerlei Grund zur Hoffnung gibt", sagt der Mann am Band. Sein Laden liegt am kleinen Marktplatz des Fleckens, auf dem es auch am Abend noch wie in einem Bienenstock zugeht - Seyne hat wohl noch nie so einen Auflauf erlebt. "Seit Jahren hoffen wir darauf, dass endlich etwas passiert in dieser Stadt", sagt der Kassierer. "Aber die größte Luftfahrttragödie in den letzten Jahrzehnten? Wenn die Leute in Zukunft den Namen Seyne hören, werden sie nicht an die schönen Berge, sondern an die vielen Toten denken."
Quelle: ntv.de