Bilanz der Orkannacht "Ylenia" fegt über Nordosten - 152 km/h auf Brocken
17.02.2022, 11:05 Uhr
Von Westen her ziehen zwei Sturmtiefs über Deutschland hinweg. "Ylenia" tobt sich in der Nacht vor allem im Norden und Osten aus. Vielerorts sind die Feuerwehren im Dauereinsatz. Am Nachmittag dürfte das Ärgste vorbei sein - dann ist allerdings schon das nächste Orkantief im Anmarsch.
Umgestürzte Bäume, lose Dachziegel, abgesagte Flüge und verspätete Züge: Sturmtief "Ylenia" hat zunächst vor allem den Norden und Osten Deutschlands getroffen. Die Feuerwehren und Polizeileitstellen berichteten am frühen Morgen von zahlreichen Einsätzen, größere Schäden blieben vorerst aber aus. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hatte für Mittwochabend bis Donnerstagabend Unwetterwarnungen hauptsächlich für die nördliche Hälfte des Landes herausgegeben. Die Deutsche Bahn hat den Fernverkehr in mehreren Bundesländern am Morgen eingestellt.
Die Hochwasserstände an der niedersächsischen Nordseeküste blieben zum Teil niedriger als erwartet. Anders als für Schleswig-Holstein und Hamburg hatte das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) hier auch nicht vor einer Sturmflut gewarnt. Es wurde allerdings mit Pegelständen etwa 1 Meter höher als das mittlere Hochwasser (MHW) gerechnet. Auf Borkum lagen die Wasserstände nach Angaben eines BSH-Sprechers mit etwa 84 Zentimeter über dem mittleren Hochwasser darunter. Auf Norderney stieg das Wasser demnach auf 1,01 Meter über MWH. In Emden wurden Werte von 1,15 Metern erreicht und in Wilhelmshaven von 1,09. Auf einer Autobahnbrücke bei Oldenburg hat eine Sturmböe am Morgen einen Lastwagen erfasst und umgekippt. Der Fahrer blieb unverletzt, sagte ein Polizeisprecher. Da der Sattelzug nun mitten auf der Brücke liege, gestalte sich die Bergung schwierig. Die Huntebrücke der A29 wurde in Richtung Wilhelmshaven gesperrt. Das BSH warnt für die Nordseeküste erneut vor der Gefahr einer Sturmflut am Nachmittag.
In Schleswig-Holstein gab es eine Sturmflut. In Husum und am Eidersperrwerk beispielsweise lagen die Hochwasserwerte am frühen Morgen über 1,5 Meter über dem mittleren Hochwasser. Genaue Zahlen lagen zunächst nicht vor. Im Hamburger Elbegebiet sollte das Hochwasser Werte erreichen, die 1,5 bis 2 Meter höher als das mittlere Hochwasser liegen. Die Sturmflutgefahr bestand hier bis etwa 5 Uhr. Der Hamburger Fischmarkt ist am frühen Morgen erneut überflutet worden. "Am Pegel St. Pauli wurde gegen 5 Uhr ein Wert von 1,98 Metern über dem mittleren Hochwasser (MHW) gemessen", sagte ein Sprecher des Sturmflutwarndienstes des BSH.
Die Feuerwehr Berlin rief am frühen Morgen wegen des Sturmtiefs "Ylenia" den Ausnahmezustand aus. Seit 2 Uhr sei ein starker Anstieg an wetterbedingten Einsätzen zu verzeichnen. Mehrere Freiwillige Feuerwehren seien in den Dienst gerufen worden, um die Berufsfeuerwehr zu unterstützen. In Lichterfelde seien beispielsweise drei Bäume auf mehrere parkende Autos gefallen und auch ein Lichtmast sei mitgerissen worden. Meldungen von Verletzten lagen aus Berlin zunächst nicht vor.
Eine Corona-Teststation in Kleve am Niederrhein hielt dem Sturm am Mittwochabend nicht stand. Der Wind zerstörte das Zelt des Drive-in-Testzentrums in Nordrhein-Westfalen, wie die Feuerwehr mitteilte. Verletzt wurde nach Feuerwehrangaben niemand. Für etwa 54.000 Haushalte in Nordrhein-Westfalen ist in der Nacht der Strom ausgefallen. Das teilte der Betreiber Westnetz auf Twitter mit. Gegen 3 Uhr sei es zu der Störung gekommen, sagte eine Polizeisprecherin. Nach Angaben von Westnetz waren umgestürzte Bäume die Ursache. Ein Sprecher der Feuerwehr sagte, es seien Bäume gefunden worden, die in Umspannwerke gefallen seien. Um 8 Uhr gab der Versorger Entwarnung: Alle betroffenen Bereiche seien wieder zugeschaltet, hiße es auf Twitter. Wegen "Ylenia" ist in der Nacht zudem ein etwa 40 Meter hoher Baum umgestürzt und auf die Schienen der Wuppertaler Schwebebahn gefallen. Die Feuerwehr sei mit einem Kran- und einem Leiterwagen im Einsatz gewesen, habe den Baum noch in der Nacht zersägt und weggeräumt, sagte ein Feuerwehrsprecher.
In den Gemeinden Vordereifel und Adenau in Rheinland-Pfalz ist in der Nacht der Strom ausgefallen. Gegen 2.30 Uhr sei es zu einer Störung gekommen, die am frühen Morgen noch andauerte, wie ein Sprecher der Polizei in Koblenz mitteilte. Die Ursache für den Stromausfall in den beiden benachbarten Gemeinden in den Landkreisen Mayen-Koblenz und Ahrweiler war demnach noch unbekannt.
In Hessen hat der Sturm am Morgen etliche Bäume umstürzen lassen. Dabei kam es auch zu mehreren Unfällen, die aber glimpflich und lediglich mit Blechschäden verliefen, verletzt wurde zunächst niemand. Das Polizeipräsidium Wiesbaden sprach von gut zwei Dutzend Einsätzen im Raum Limburg und Weilburg, im Hochtaunuskreis sowie im Rheingau-Taunus-Kreis. In drei Fällen seien Bäume auf Autos gestürzt. Auch beim Polizeipräsidium Gießen gingen am Morgen zahlreiche Meldungen zu umgestürzten Bäumen ein, in einem Fall sei ein Wohnhaus betroffen gewesen, nähere Einzelheiten stünden noch nicht fest, sagte ein Polizeisprecher. Auf der Autobahn 5 zwischen Friedberg in der Wetterau und dem Bad Homburger Kreuz hat ein umgewehter Lastwagen am Morgen für einen langen Stau gesorgt. Das mit Styropor beladene Gespann sei von einer Windböe erfasst worden und umgestürzt, teilte ein Polizeisprecher mit.
Alle aktuellen Entwicklungen finden Sie in unserem Sturm-Liveticker.
Bahn stellt Zugverkehr ein
Das Sturmtief beeinträchtigte auch den Bahn- und Flugverkehr. Umgestürzte Bäume behinderten Züge. Die Deutsche Bahn hat den Fernverkehr in mehreren Bundesländern am Morgen eingestellt. Der Zugverkehr sei in weiten Teilen Deutschlands stark eingeschränkt, sagte ein Bahn-Sprecher. "In der Nordhälfte verkehren bis in die Mittagsstunden keine Züge im Fernverkehr." Das betrifft Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg. Auswirkungen gebe es auch in anderen Bundesländern. Der Zugverkehr ist in Niedersachsen durch das anhaltende Sturmtief stark beeinträchtigt. Bis auf Weiteres fallen die Nahverkehrszüge von Enno, Metronom und Erixx aus, wie es am Morgen in einer Mitteilung hieß. Auch in Teilen Hessens kommt es im Bahnverkehr zu Verspätungen und Zugausfällen.
In der Nacht hielt sich das Ausmaß zunächst in Grenzen. Zwischen Bremen und Hamburg stürzte bei Buchholz ein Baum auf die Gleise. Ein ICE musste deshalb umgeleitet werden, wie ein Bahnsprecher sagte. In Nordrhein-Westfalen blockierten Bäume vereinzelt Nebenstrecken im Raum Dortmund. Vorübergehend war demnach die Verbindung Dortmund-Münster betroffen. Die Lufthansa strich vorsorglich 20 Flüge. Reisenden wurde empfohlen, sich auf der Website der Airline über den Status ihres Fluges zu informieren. Am größten deutschen Flughafen in Frankfurt sind nach Betreiberangaben Verbindungen mit Berlin, Hamburg und München betroffen. Auch am Flughafen Hamburg fällt am Donnerstag rund ein Dutzend Flüge aus. Betroffen sind Verbindungen von und nach München, Frankfurt, Kopenhagen, Zürich und Istanbul, wie eine Sprecherin des Airports mitteilte.
Auf dem exponiert liegenden Brocken im Harz wurden nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes zwischen 0.30 und 1 Uhr durchschnittliche Windgeschwindigkeiten von 120 Kilometern pro Stunde gemessen. Die Windspitze in dem Zeitraum lag hier bei 152 Kilometern pro Stunde, sagt ntv-Meteorologe Björn Alexander.
Demnach gab es auch in anderen Teilen Deutschlands in exponierten Lagen wie Bergspitzen zum Teil Orkanböen und orkanartige Böen: Auf dem Weinbiet wurden 152 km/h gemessen, genauso wie auf dem Kahlen Asten. Auf der Zugspitze seien es 126 km/h gewesen, berichtet Alexander. Auf Dornbusch waren es teilweise bis zu 148 km/h, auf Helgoland und Borkum 137 km/h. In Torgau (Sachsen) waren es maximal 135 km/h, in Beverungen (NRW) 135 km/h, in Kiel 133 km/h, in Eppendorf (Sachsen) 128 km/h und in Dessau (Sachsen-Anhalt) 128 km/h.
In Nordrhein-Westfalen sagte Landesschulministerin Yvonne Gebauer den Unterricht für Donnerstag ab. Auch in mehreren Regionen Niedersachsens und Bayerns dürfen Schülerinnen und Schüler am Donnerstag wegen der Wetter-Gefahren zu Hause bleiben. In Niedersachsen fällt der Präsenzunterricht an vielen allgemein- und berufsbildenden Schulen ganz aus, wie aus Mitteilungen von Kommunen und der Verkehrsmanagementzentrale Niedersachsen hervorgeht.
Auch in Teilen Großbritanniens und Irlands hat stürmisches Wetter in der Nacht zu Behinderungen im Zugverkehr und zu Stromausfällen geführt. In Schottland und England fielen zahlreiche Zugverbindungen aus wegen umgestürzter Bäume auf den Gleisen, Schäden an Oberleitungen oder den Signalanlagen. Tausende Haushalte im Norden Englands waren zeitweise von der Stromversorgung abgeschnitten. "Dudley", wie das Sturmtief in Großbritannien bezeichnet wird, brachte Windgeschwindigkeiten von bis zu 160 Stundenkilometern. Für Freitag wird mit einem weiteren, noch stärkeren Sturm gerechnet.
Auf Orkantief "Ylenia" folgt "Zeynep"
Auch heute besteht laut ntv-Meteorologe Björn Alexander weiterhin Unwettergefahr. Das gilt für ganz Deutschland insbesondere am Vormittag, wenn auf den Bergen und an der See weitere Orkanböen von um die 120 km/h und mehr möglich sind. Auch im Flach- und Binnenland sind einzelne Orkanböen nicht auszuschließen. Mindestens aber dürfte es zu schwere Sturmböen von um die 100 km/h kommen.
Ab Nachmittag lässt der Wind von Tief "Ylenia" demnach zwar langsam nach. Die Verschnaufpause dürfte jedoch nur kurz sein. Bereits für Freitagmittag wird das nächste Orkantief - "Zeynep" genannt - von den Britischen Inseln kommend erwartet. Laut DWD wird wahrscheinlich wieder vor allem die nördliche Hälfte betroffen sein. Doch die Prognosen seien hierbei nicht ganz sicher: "Die Modelle haben da immer noch sehr unterschiedliche Simulationen", sagte der Pressesprecher und Meteorologe Andreas Friedrich. Die Wetterlage sei sehr dynamisch.
Autofahrer sollten ihren Wagen besser stehen lassen und auf nicht unbedingt notwendige Fahrten verzichten, empfiehlt der ADAC in Nordrhein-Westfalen. Es müsse jederzeit mit umgestürzten Bäumen oder herabfallenden Ästen gerechnet werden. Die Deutsche Bahn teilte mit, dass für den Zeitraum Donnerstag und Freitag Kulanzregelungen für die Gültigkeit bereits gekaufter Fernverkehrstickets gelten würden. Möglich seien eine flexiblere Nutzung über mehrere Tage oder kostenfreie Stornierungen.
Zahlreiche Zoos, etwa in Berlin, Wuppertal und in Magdeburg, sollten am Donnerstag vorsorglich geschlossen bleiben. Hier und dort wurde der Besuch von Friedhöfen untersagt. Auch viele Skigebiete stellten sich auf die Orkantiefs ein. Bereits am Mittwoch stand etwa die Fichtelberg Schwebebahn in Sachsen still. Wegen der Baumbruchgefahr sollen einige Loipen gesperrt werden. In vielen Städten wurden die Wochenmärkte für Donnerstag abgesagt.
Bereits Ende Januar war das Sturmtief "Nadia" mit gefährlichen Böen über Nord- und Ostdeutschland gefegt und hatte Millionenschäden verursacht. Nach Ansicht des DWD-Meteorologen Friedrich sind die jetzigen Stürme, was die Windspitzen angeht, mit Tief "Nadia" vergleichbar. Die aktuelle Lage sei aus seiner Sicht allerdings brisanter, "weil wir eine Kette von Sturmtiefs haben".
Quelle: ntv.de, ino/mbe/dpa/AFP